Die Frage des Königs
"Erkläre mir, Unsterblicher," - begann der König, - „warum die Weisheit eines jeden Weisen eine andere ist? -
Der eine, wie der andere nennt seine Lehre: Wahrheit, und doch sind ihre Lehren grundverschieden."
„Sie lehren alle das Gleiche!" - sprach jener, von dem sie sagten, dass er die große Einung erlangt habe, die jeden, der sie erreicht hat, all-einig macht, so dass er nie mehr mit sich selbst im Streite liegen kann, und nie mehr zu scheiden ist von den ewig einigen Erkennenden im urgezeugten Licht.
„Verzeihe, Großer Lehrer, dass ich dir widersprechen muss!"- erwiderte der König. „Ich habe vieler Weisen Lehren eingesogen, und jede schmeckte anders.
Der eine sprach von vielen leiblichen Geburten des gleichen individuellen Lebens in vielen, nach jedem Körperverlust erneut entstehenden Leibern, - der andere aber wusste vielmehr von vielen seelischen Geburten in nur einem, einmalig dargebotenen Erdenleib, während eines einzigen Lebens auf dieser Erde. -
Dem einen galten Götter als Richter, - dem anderen aber stand der Mensch hoch über allen Göttern, und nach solcher Lehre sollte der Vollendete Göttern gebieten können.
Wie willst du das alles vereinen?! -"
„Es ist die Rede von einer Wahrheit in allen diesen Lehren!" - sagte der Weise.
„Wie aber können denn diese Lehren so Verschiedenes künden, wenn sie im Grunde nur eine und die ewig gleiche Wahrheit bergen? -" fragte darauf der König.
Und der Weise antwortete ihm:
„Grosser König, vernimm ein Gleichnis!
Ein Meister saß an einem strahlenden Tage mit seinen Schülern am Ufer des Meeres.
Keine Welle zerriss den grenzenlosen Spiegel, und die Kuppel des Himmels leuchtete wie ein einziger Edelstein.
Da baten die Schüler den Meister, dass er mit ihnen in ein Boot steige, um sich von ihnen durch Ruderschlag hinausführen zu lassen auf die Höhe der Meeresweite.
Der Meister bestieg das geräumige Boot, und seine Schüler zogen die Ruder an, bis das Land ihren Blicken entschwunden war.
Als sie dann Ruhe hielten unter einem ausgespannten Sonnensegel, sagte der Meister:
„Ich will euch prüfen an euren eigenen Worten, ob ihr schon seht, was ich euch sehen zu lehren suche.
Sagt mir darum, was ihr seht!"
Da fing der erste der Schüler sein Bild auf dem glatten Wasserspiegel und bewunderte sehr, wie getreu ihn die Oberfläche des Meeres widerstrahle.
Der zweite sah über die Wasser und fand ihr Ende dort, wo das Gewölbe des Himmels sie berührte, - und da er wohl wusste, dass ihm in dieser Ferne das gleiche Rundbild beschieden sein würde, so wurde sein Herz ergriffen vom Erfühlen solcher unfassbaren Weite, worauf er denn ergreifend in ehrfurchtsvollen Worten die Unendlichkeit pries.
Als nun der dritte reden sollte, sprach dieser von dem Schwarm der Fische, die in dem tiefen klaren Wasser das Boot umschwärmten, und er beschrieb mit Liebe die geschmeidigen Formen in ihrem farbenschillernden Schuppenglanz.
So redeten sie alle von anderen Dingen und waren doch alle am gleichen Ort. -
Als nun noch der vierte vom Lichte gesprochen hatte, das alles umstrahle, - und nachdem er, dieses Lichtes trunken, laut, in wohlgesetzter Rede des feuerglänzenden Gestirnes Lob zu verkünden wusste, dem alles Erdenlicht zu danken ist, - sahen die Schüler erwartungsvoll ihren Meister an, denn es schien den dreien die zuerst gesprochen hatten, gewiss, dass nur der vierte die Antwort gegeben habe, die der Meister erwarte.
Und der Meister sprach:
„Ich sehe die Sonne und sehe das Licht, - ich sehe die scheinbar grenzenlose Weite, - sehe die Tiere des Meeres, die den Schatten unseres Bootes umdrängen, - und ich sehe auch mich selbst in dem flüssigen Spiegel, - - aber - ich sehe mehr, und mehr als das alles will ich euch sehen lehren!"
„O sage uns, was du außer dem allen noch anderes siehst, geliebter Lehrer!" - baten nun die vier Schüler wie aus einem Munde.
Der Meister aber sprach:
„Habe ich euch denn noch immer nicht genug davon gesagt?
Seit vielen Monden sage ich euch von dem, was ich sehe, und ihr wisst es noch nicht?"
Da riefen alle:
„Noch nie, Meister, sind wir zusammen auf dem Meere gewesen, und du willst uns davon gesprochen haben!? -"
„Sagte ich denn, dass ich vom Meere erzählt hätte, oder sprach ich nicht vielmehr von dem, was ich sehe!?" erwiderte der Meister, und fuhr dann in seiner Rede also fort:
„Ihr habt mich auf das Meer herausgerudert, und ihr wart des Glaubens, dass ich euch vom Meere reden hören wolle, von der Weite der Wasser, und dem Lichte, das sich über sie ergießt.
Das Meer aber erzählt sich selbst, und alles erzählt sich selbst, was uns hier umgibt!
Wären tausend Schüler hier um mich in ihren Booten, so hätten meine Ohren tausend Erzählungen des Meeres, des Lichtes und der Unendlichkeit vernommen, - hörbar geworden in der Sprache des Menschenmundes ...
Aber wäre das im Palmwalde anders? - Oder auf den schneebedeckten Bergen des Himavat? -
Auch Wald und Berge erzählen sich selbst, und ich bin nicht genötigt, euch zu fragen, wenn ich ihre Erzählung vernehmen will.
Wohl aber wollte ich durch euch hören von dem, was ich an allen Orten sehe, und das dennoch zeit- und ortlos ist! -
Wer das erschaut, der vergisst darüber die Erzählungen des Himmels und des Meeres, der Berge und der Wälder! - -
Ihr sucht noch draußen, weil euer inneres Reich noch keine Sonne sieht und darum finster ist ...
Wenn ihr aber eurer Reiche „Könige" einst geworden seid, dann muss alles, was draußen liegt, zu euch kommen, und euch Tribut entrichten, wann immer ihr es verlangt. -
Lasst also alles was draußen liegt, ruhig sich selbst erzählen, wie es sich euch erzählen mag, und stellt keine Fragen, die euch von draußen her vorerst ja doch nicht beantwortet werden!
Wartet, bis ihr Herren in euch selber seid, auf dass man euch draußen geben müsse, was ihr verlangt, denn wenn ihr als Bettler hinauszieht, gibt man euch, was man mag! - -"
Als die Schüler diese Rede vernommen hatten, schwiegen sie beschämt, und jeder bewegte des Meisters Worte im eigenen Herzen.
Da der Abend nahe war, suchte man nun mit scharfen Ruderschlägen wieder dem Lande sich zu nähern, und jeder Ruderschlag wurde den Schülern zum Gelöbnis, vor aller Frage an das, was draußen liegt, zuerst die Herrschaft in sich selbst zu erstreben."
„Demnach", sagte der König, als der Weise seine Erzählung hier beendet hatte, - „demnach möchte ich glauben, dass Verschiedenheit der Lehre nur bei denen sei, die noch „draußen" stehen? -"
„So ist es wohl, o König", - sprach der Vollendete, - „aber vergiss dabei dennoch nicht, dass jene, die von ihrem Innen künden, nachdem sie Herren in sich selbst geworden sind, doch auch nur in ihrer Zunge reden können! -
Wenn du die Wahrheit ganz nach deiner Art erkennen willst, musst du sie selbst in dir selber suchen!"
Da nun der König schwieg, erhob sich der Weise, wie einer, der weiß, dass man ihn nicht mehr braucht, durchschritt das Gefolge und ging von dannen, versunken in sein inneres Licht.
Der König aber beratschlagte bei sich, ob er wohl selbst ein Seher der Wahrheit werden möchte?
Nach einer Weile jedoch gab er seine Gedanken auf und sprach zu sich selbst:
„Wer weiß, ob ich die Wahrheit in mir finden würde?!
Wer weiß auch nur, ob sie mich nicht längst schon verlassen hat, da sie sich von mir verlassen sah?!
Weshalb soll ich auch selbst der Wahrheit ins Auge sehen müssen?!
Vielleicht wäre ich meiner Wahrheit selbst nicht sicher, und wie sollte ich dann wissen können, was Wahrheit sei?!
In meinen Landen aber leben so viele Weise, und allenthalben lehren erfahrene Lehrer.
Mir, dem Könige, müssen sie um ihre reinste Erkenntnis sagen, und ich kann annehmen, was ich mag.
Auch meine Vorväter ließen vor sich nur das als Wahrheit gelten, was sie wahrhaben wollten, und ich will mir die gleiche Freiheit wahren!"
So kam es, dass dieser König ohne Wahrheitserkenntnis blieb bis an sein Ende.