Die Wanderung
Der Schüler, dessen Heimat im Abendlande gelegen war, fern von dem großen Gebirge an dessen Abhang der Meister lebte, hatte eben die Frage gestellt nach dem erhabenen Lehrer aus Nazareth, und bat um Belehrung.
„In meinem Lande", sagte der Schüler, „gibt es viele berühmte Lehrer, die nicht glauben, dass Jener einst über die Erde geschritten sei, und sie meinen, dass die Sage seine Züge gebildet habe, - ja, es gibt einzelne die des Glaubens sind, die Erzählungen seines Lebens seien nur verhüllte Berichte von einem Sternenmythos, der einst den Menschen der Vorzeit heilig gewesen sei.
Du, o Lauterer, aber hast schon des öfteren Worte zu mir gesprochen, die du wohl mit Absicht den Büchern entlehntest, die von dem Leben des jüdischen Lehrers und seiner Lehre zu erzählen wissen.
Du warst voll Ehrfurcht, wenn du seinen Namen nanntest, und so ich dich recht verstanden habe, steht er dir höher als alle anderen, die jemals den Weg der Einung gegangen sind? -
Weshalb nun finde ich dich nicht unter denen, die sich als Gläubige des auch von dir so hoch verehrten jüdischen Meisters bekennen?"
So fragte der Schüler, da er noch nicht wusste, wer „der Meister" in jedem geistgeborenen Meister ist ...
Der Befragte aber lächelte nur gütig und verstehend, aber er antwortete nicht. Da sagte der Schüler, der nun in Zweifel geriet, ob seine Frage nicht am Ende ungehörig gewesen sei, in einiger Verlegenheit:
„Wohl hast du recht, du Gebieter über geistige Kräfte, von denen meine Lehrer im Abendlande mir nichts zu sagen wussten, wenn du meine Frage bei dir verlachst!
Wie magst du uns Menschen des Westens voll Mitleid betrachten. -
Aber dennoch bitte ich dich, du wollest wenigstens die eine Frage deiner Antwort würdigen: -
Wäre es nicht weit besser für uns Abendländer, wenn wir dieses jüdischen Lehrers Lehre auf sich beruhen und unbeachtet lassen würden, gleich einer Sage, die uns heute nichts mehr zu sagen hat?
Jede Zeit hat doch ihre zeitgerechte eigene Weise, sich der Wahrheit zu nähern."
Bei diesen Worten stand der Meister still.
Die beiden Wanderer waren jetzt auf der Höhe angelangt, die eines Flusses Wasser von dem eines anderen schied.
Eine mächtige, vierkantig flächige Steinsäule, die aus einem einzigen Felsen voreinst herausgehauen worden war, bezeichnete den Ort.
In der Schrift des Landes trug sie in erhabener Größe tief eingemeißelt die heiligen Silben:
OM MANI PADME HUM -
was da bedeutet: „Wahrhaftig! Die Lotosblüte birgt das Geheimnis!"
Unterhalb dieser Worte aber war ein Zeichen, das den fremden Pilgern den Weg zum Ziel ihrer Wallfahrt angab.
„Meinst du nicht, dass es besser wäre", - begann der Meister, so als ob er die Frage des Schülers, wohl in eigene Gedanken versunken, überhört haben möchte, - „wenn diese riesengroße alte Säule hier verschwinden würde?
Ich habe bei den Völkern deiner Rasse Anderes gesehen, und ich gedenke dahin zu wirken, dass aus der großen Stadt im Süden einer der zeitentsprechenden neuen Wegzeiger hier heraufgebracht wird, gefällig bemalt und mit allerlei Zier versehen, so, wie ihr Menschen des Westens sie aus Eisen zu gießen wisst.
Die Pilger sollen sehen, dass die Mönche unten im Kloster nicht so weltferne sind, dass sie nicht doch ihrer Zeit zu genügen wüssten!
Die längst schon der Zeit recht ungemäße Säule mag man dann stürzen und in der Schlucht dort neben dem Pilgerpfad zerschellen lassen.
Was hätte uns auch dieser Felsblock heute noch zu sagen?! -"
„Du redest doch nicht im Ernst, Meister?" erwiderte der Schüler erschreckt.
„Zwar sieht man der Säule wohl an, dass sie alt ist, aber sie zeigt die großen einfachen Formen, die zu keiner Zeit veralten können, und die heiligen Silben sind in einer Schriftform eingemeißelt, die an Schönheit wahrlich ihresgleichen sucht.
Wie könntest du dieses gewaltige Werk, das von erhabenster Würde zeugt, zerstören lassen, um an seiner Stelle eine aller Größe entratende, barbarisch geschmacklose Tafel aus Eisenguss aufzurichten, wie man sie leider heute an allen Straßen sieht!?!
Wie könnten die heiligen Silben dir derart gleichgültig sein, dass du es ertragen möchtest, wenn man sie auf einen solchen erbärmlichen bunten Firnis malen wollte?! -
Auch ist auf solcher Höhe, allen Stürmen dargeboten, dergleichen nur von kürzester Dauer!
Die Säule, aus einem einzigen Felsen geformt von erhabener Hand, steht aber schon mehr als tausend Jahre hier und kann noch viele tausend Jahre hindurch allen Pilgern, die sie schon von ferne sehen, ihren Weg zum Tempel zeigen, - und sie selbst ist schon ein hohes Heiligtum: - wahrhaft der Gottheit würdig!
Du redest doch sicher nicht in vollem Ernst, denn wie könnte das, was hier entgegenspricht, dir, dem doch alles menschliche Fühlen sich offenbart, auch nur einen Augenblick lang verborgen gewesen sein??-"
Da lächelte der Meister wieder, und schwieg, wie er vordem geschwiegen hatte.
Dann gingen sie. Schweigend wanderten sie zu Tale, - den ausgedehnten Gebäuden des alten Lamaklosters zu, in dessen Nähe der Meister sich zurückgezogen hatte.
Der Schüler aber sann darüber nach, warum wohl sein Lehrer ihn immer wieder zu zwingen wusste, sich auf jede Frage selbst die Antwort zu geben, - wie es nun auch hier geschehen war, bei der Frage nach dem Meister von Nazareth ...