Symbolform
Home Nach oben Struktur Symbolform Geistliche Bilder I Geistliche Bilder II Welten

 

 


Symbolform und Wirklichkeit
in den Bildern des Malers Bô Yin Râ
Von Rolf Schott

Wer immer als ein Neuling dieser Kunst ansichtig wird, den bestürzt es beinahe, daß da — scheinbar zwei verschiedene Ausdruckssprachen von einem und demselben Künstler gesprochen werden. Oder sollten gar zwei Künstler unter dem gleichen Namen gearbeitet haben? Dann vielleicht mag solchem Neuling der Gedanke kommen, hier habe ein Maler, vielleicht unter den Eindrücken der modernen Kunst, seine frühere Art aufgegeben, um sich in eine naturferne geometrisierende, etwa dekorativ oder abstraktistisch gemeinte Formenwelt zurückzuziehen. Wenn es sich aber weiterhin herausstellt, daß dieser Künstler Jahrzehntelang bis zuletzt die beiden Arten nebeneinander gepflegt hat, die wohl überhaupt nie durcheinander geraten sind oder nur in vereinzelten Fällen sich stilistisch vermischt haben, so ist des Rätsels Lösung nicht in Entwicklungsfragen — man erinnere sich des früheren und des späten Rembrandt — oder in artistischen Launen — Beispiel: Picasso —‚ sondern ganz einfach durch den Stoffkreis gegeben: Auf der einen Seite Landschaften, vorzüglich griechische Landschaften, auf der anderen Seite — nun, was denn? — ebenfalls Landschaften, oder, sagen wir, Raumvisionen, aber aus Bezirken des Kosmos, die dem Schauvermögen und Bewußtsein des erdgeborenen Menschen in der Regel verschlossen sind und bleiben. Einzig das Bild „Weihenacht scheint beiden Bezirken anzugehören, wenn ich nicht irre. Man kann natürlich die auf des Malers eigene Aussagen zurückgehende Behauptung eines rein geistigen Bewußtseins belächeln oder achselzuckend ablehnen, mag den Stoffkreis der „geistlichen Bildern, wie sie vom Künstler genannt worden sind, irgendwelcher Hellseherei oder überhaupt bloßer Phantasterei zuschreiben und — übrigens mit entschiedenem Recht — erklären, es komme bei Betrachtung dieser Bilder vor allem darauf an, festzustellen, ob sie Kunstwerke seien oder nicht, ob sie ästhetische Bedeutung hatten oder nicht, ob sie ein künstlerisches und kunsthistorisches Faktum seien oder nicht. Darüber mich zu äußern, ist heute und hier nicht meine Aufgabe. Vielmehr will ich versuchen, den Wirklichkeitswert dieser Bilder aus deren magisch ausstrahlenden Symbolformen Ihnen ein wenig zu erschließen.

Es handelt sich also nicht um Stilwechsel, sondern um Darstellungen aus zweierlei Bewußtseinsgraden, und es mag sein, daß damit etwas Neues und bisher vielleicht Unerhörtes in der Geschichte der künstlerischen Gestaltung auf den Plan getreten ist, nämlich Gestaltungsvermögen nicht auf Grund physischen, sozusagen animalesken Bewußtseins, wie es allen Erdenmenschen und Erdenkünstlern gemeinsam ist, sondern dank gleichzeitig vollerschlossenem und kontinuierlichem geistigem Bewußtsein. Oder begegnen wir solchem Bewußtsein, vielmehr Doppelbewußtsein, auch sonst in der menschlichen Geistesgeschichte? In Spuren und Ahnungen sicherlich, und vielleicht gar nicht einmal so selten, wie man meinen sollte. Vor allem in der religiösen Philosophie, da schimmert das auf, besonders bei den alten chinesischen Taoisten, wohl auch bei manchem Vorsokratiker, bei Platon und Platonikern, bei mittelalterlichen Religiosen von Dante und Eckehart bis zu Jakob Böhme und Pascal, ja, Samt Martin, Emerson, Ramakrishna und Walt Whitmann an der Schwelle der Neuzeit. Nicht umsonst sind mir Dichter in diese selige Gruppe hineingeraten, in der sicherlich auch noch Leonardo und Goethe zu gewahren wären.

Denken Sie an die letzten Seiten des Faust, wo es sich wahrlich nicht um einen „weihrauchduftenden katholischen Opernhimmel“, wie Thomas Mann etwas schnippisch meint, sondern um Ewigkeitsraum voll strenger und erhabener Symbole handelt, alles ausgedrückt in einer seelenerschütternden, mit Schöpfungskraft geladenen Sprache des uralten weisen Mannes. Aber es gab sicherlich keinen echten Dichter zu allen Zeiten, dem nicht ein Schimmer geistigen Bewußtseins in innerem Aufgang gewesen wäre.

Ich darf auch an einen alten dänischen Freund erinnern, den Erzähler Anker Larsen, dem die Gabe des doppelten Bewußtseins zuteil geworden ist, und er legt in manchem seiner Bücher in schlichter kindlicher Weise Zeugnis davon ab. Nun sind die Grade des geistigen Bewußtseins zweifellos ungeheuer verschieden. Und bis n die obersten Himmel und bis zu den innersten Sonnen im Land der ewigen Gestaltung, wie Bô Yin Râ es genannt hat, zu dringen ist nur ganz selten, nämlich den eigentlichen Meistern des Lebens und Rettern der Menschen verliehen.

Der Besitz des geistigen Bewußtseins — man hat das in Amerika auch das kosmische Bewußtsein, cosmic consciousness, genannt — ist wahrlich das köstlichste Gut, weil es allein absolute Gewißheit bezüglich der letzten Dinge und der individuellen Unsterblichkeit gibt; „denn der Geist spürt alles aus, auch die Tiefen des Gottes“, sagt Paulus im ersten Brief an die Korinther. Man wird durchwegs bemerken können, daß die seltenen Besitzer solchen geistigen Bewußtseins von Grund aus einfach und redlich sind, von sich und ihrem Erkennen kein Aufhebens machen, natürlich und erdfarben sind. Bô Yin Râ ist ein heiterer und zudem der natürlichste und redlichste Mensch gewesen, der mir je begegnet ist. Er hat, möchte ich sagen, immer alle Verzierungen weggelassen, so daß gerade dadurch die reine Form zum Vorschein kam, sei es in Umgang und Gespräch, die oft humorgewürzt waren, sei es in Schrift und Bild.

Das war der Grund, daß mich dieser Mann und sein Werk stets unmittelbar überzeugen mußten. Gerade seine Bilder sind von Grund aus klar, einfach und erlebt. Bei den Landschaften leuchtet das ohne weiteres ein. Und bei den geistlichen Darstellungen kann man es, selbst wenn einem diese Welten zunächst unbegreiflich scheinen mögen, an der bloßen Sprache der an sich so deutlichen Formen vernehmen, daß hier offenbar die Wahrheit gesagt wird, auch wenn man sie zunächst nicht begreifen mag, und daß also hier nicht die Rede von irgendwelchen Gesuchtheiten und Grillen, von neumodischen und geheimnniskrämerischen Formenspielereien und Willkürlichkeiten sein kann.

Und wer in den sozusagen überirdischen Modellen zu solchen Bildern keine Wirklichkeit erblicken will oder kann, sie als unnatürlich oder gesucht, womöglich als Selbsttäuschung und lllusionskünste ansieht, dem möchte ich ein Wort van Walt Whitman, dem großem amerikanischen Dichter, der auf seine Weise auch den Jenseitsblick hatte und als ein ungemein klarer, allem Gezierten abholder und natürlicher Mensch stets geschildert worden ist, in Erinnerung bringen. Es steht in seinem berühmten Gedichtband Grashalme, Leaves of Grass, in welchem nirgendwo nur herumgeredet, geflunkert oder gefaselt wird, und lautet:

„ - in einem Augenblick Ward ich von einer anderen Sonne unaussprechlich geblendet - Und von allen Himmelskörpern, die ich kannte, und von leuchtenderen, unbekannten Sonnen; Es war ein Augenblick des Zukunftslandes, des Himmelslandes.“

Irre ich mich nicht, so ist in diesen Dichterworten, die schon gedruckt waren, längst bevor Bô Yin Râ zur Welt gekommen war, auf erstaunliche Weise wie in einer Nuß eine Art Inbegriff der geistlichen Bilder gegeben, die andererseits wahrlich nicht im geringsten als Illustration und Entfaltung der Whitmanschen Verse angelegt sind, Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, daß Bô Yin Râ nie eine Zeile jenes Amerikaners gelesen hat, den man so hübsch „The Good Gray Poet genannt hat. Wenn man davon absieht, daß jede künstlerische Arbeit an sich eine Art Abstraktion und Symbolschaffen ist, so sind doch die geistlichen Bilder unseres Malers gewiß nicht abstrakter als seine Landschaftskunst; sie sind vielmehr so konkret wie möglich, gewissermaßen noch konkreter als diese, aus dem einfachen Grunde, weil die physische Welt selber ja eine Art Abstraktion der geistigen Welt ist (und nicht umgekehrt 1). Beide Stoffkreise werden, um dies noch einmal zu betonen, vom Künstler seit seiner Initiation in Griechenland — die in die Jahre 1912/13 gefallen sein dürfte — gleichzeitig und lebenslänglich gepflegt. Das geistig. Wirklichkeitserleben hat selbstverständlich auf das erdensinnlich. Erfassen der Umwelt erheblich eingewirkt, und demgemäß empfinden wir in allen diesen griechischen Landschaften jene der alten hellenischen Kunst nachgerühmte „stille Einfalt und edle Grösse.“ (ein Wort, das, nebenbei bemerkt, nicht von Winckelmann, sondern von dessen auch durch Goethes Autobiographie bekanntem Lehrer und Freund Oeser stammen soll). Wenn man mit Recht die geistlichen Bilder als eine optische Integration des geistigen Lehrwerks in den Büchern Bô Yin Râ’s erlebt, so ist doch auch seine griechische Landschafterei vom nämlichen Geiste durchweht, und es könnte auch gar nicht anders sein.

Wenn ich mir vorgenommen habe, in diesen meinen Darlegungen hauptsächlich auf die Formkomponenten und den Wirklichkeitswert der geistsinnlich konzipierten Bilder einzugehen, so ist zunächst daran festzuhalten, daß mit aller rein ästhetischen Betrachtung ihre eigentliche Bedeutung nicht erschöpft, ja, kaum berührt oder angeschnitten wird, um so mehr, als es sich hier ganz besonders um das handelt, was Bô Yin Râ einmal „Formbild innerer Lebenszustände“ genannt hat. Freilich ihre ganze Bedeutung mit Worten auszudrücken und dem Beschauer völlig aufzuhellen, ist nicht ohne weiteres möglich, da das Erfassen ein innerseelischer Vorgang bleiben muß. Man kann allenfalls — wie ich es ja schon längst in meinem vergriffenen Buch über den Maler Bô Yin Râ und dessen als Manuskript schon lange der Veröffentlichung harrenden vollständigen Neufassung getan habe — einige Winke geben und Wegweiser aufstellen, die, wofern guter, aus Liebe hervorgegangener Wille im Betrachter vorhanden ist, zum Ziele führen mögen.

Das Ziel ist Erkenntnis, aus einer Art seelischer Läuterung des Betrachters aufblühend. Ich möchte damit sagen, daß die Bilder recht eigentlich Arzneien für die Seele sind, dank denen sie sich von den intellektuellen und materiellen Blendungen, kurzum: den Folgen des Falls aus der Lichtheimat und Gotteskindschaft in das physische Gefüge und Elend, freimachen kann. Dessen bitte ich also eingedenk zu sein und demgemäß zu versuchen, ob man den Sinn des in den geistlichen Bildern gegebenen Symbolvorrates durchdringe und der Seele gleichsam als Nahrung nutzbar mache. Deswegen ja sind diese Darstellungen eine visuelle Ergänzung der von Bô Yin Râ dargereichten Lehrtexte. In ihnen glüht farbig und selig auf, was Goethe in seiner erhabensten Dichtung geahnt hat: ich meine jene letzten Seiten des Faust, welche den zweiten mächtigen Satz von Gustav Mahlers achter Symphonie zu so etwas wie Sphärenmusik aufstrahlen liehen, jene unfaßbar fülligen und geheimnisreichen Verse, welche anheben mit:

Waldung, sie schwankt heran,
Felsen, sie lasten dran,
Wurzeln, sie klammern an,
Stamm dicht an Stamm hinan.
Woge nach Woge spritzt,
Höhle, die tiefste schützt.
Löwen, sie schleichen stumm —
Freundlich um uns herum,
Ehren geweihten Ort,
Heiligen Liebeshort.“

Ich weiß nicht, ob Sie mir beipflichten wollen, wenn ich sage, daß hier die Gebilde der irdischen Natur eigentlich nicht mehr als solche anmuten, sondern wie Geisteserscheinungen, Bewegungen überirdischer Kräfte, symbolische eigenlebige lnfluenzen und Interferenzen, kurzum etwas von dem, was Bô Yin Râ Urseinselemente genannt hat, geistige Landschaft denn überhaupt. Diese Löwen etwa, die stummfreundlich herumschleichen und geweihtem Ort Ehre erweisen, sind nicht irdische reißende Tiere, sondern Möchte, deren irdische Auswirkung als Tiergestalt herauskommt. Es liegt mir ferne, hier den Faust zu kommentieren, aber ich führe diese Stellen an, um sie in Parallele zu setzen mit den eigentümlichen Rahmenformen auf den geistlichen Bildern, wie sie heranschwanken gleich der Waldung im Faust, lasten wie Felsen des Faust, anklammern wie Wurzeln des Faust, sich häufen wie Stämme, Spritzen wie Wogen, schützen wie Höhlen des Faust. Diese wie in ständiger Bewegung, Erregung, Entfaltung, Zerfällung befindlichen, kulissenartigen, lamellenförmigen Formen bilden das, was man in der Ateliersprache Repoussoir nennt, sie treiben die Hauptsache, das Ziel, das Ewige und Unvergleichliche, ins Bewußte, ins Innere, man könnte auch sagen, in die Höhe und Ferne, ins Licht, ins Ziel. Es wurde schon gesagt, daß diese Kunst mit ihren nach dem gegebenen geistigen Modell gebildeten und daher magisch wirkenden Ausdrucksformen so konkret wie möglich ist. Aber in einer Hinsicht dürfte sie allenfalls als abstrahiert und gründlich vom Vorbild abgelöst bezeichnet werden: muß sie doch die geistigen und vieldimensionalen Gefüge in unsere auf zwei Dimensionen beschränkten malerischen und zeichnerischen Formbedingungen übertragen, beschneiden und kürzen, ihre Verwandlung nach außen und unten vollziehen. Schon unsere fiktive und auf Illusion es absehende Malerei und Zeichnung, welche rund drei Jahrhunderte lang den Plan beherrscht hat — die moderne Kunst geht andere Wege, gute Wege und auch Wege, die in Sümpfe führen —‚ mußte eine unserem dreidimensionalen Sehen angepaßte List, eine Abstraktion, eine geradezu mathematische Symbolik erfinden oder vielmehr unseren eigenen Augen ablauern: die Zentralperspektive samt Plausibelmachung aller Formenrundung durch Helidunkelarbeit, kurzum: Illusion.

Die Bahnbrecher und Entdecker dieser Dinge, welche im Norden Konrad Witz und mancher andere geahnt hatten, waren Italiener, nämlich Baumeister Brunelleschi und Masaccio, dessen malerischer Praxis jener den zentralperspektivischen Grundgedanken des einheitlichen Fluchtpunktes anvertraut hat, schließlich der große und erleuchtete Leonardo da Vinci, welcher die träumerische Illusion der Raumtiefe durch das Chiaroscuro, das Hell- dunkel, in den Bannkreis der Kunst gezogen hat. Bô Yin Râ hinwiederum mußte — ohne an sich ein Neuerer und Pionier der Kunst im geringsten sein zu wollen, Mittel finden, um die Vieldimensionalität der geistigen Räume gleichnishaft auf der zweidimensionalen Tafel plausibel zu machen: ein eigentlich unlösbares Problem wie die Quadratur des Zirkels oder die Konstruktion des Perpetuum mobile. (Moderne Geister, wie der Mathematiker Einstein und der Historiker Toynbee, kamen höheren Dimensionen wissenschaftlich auf die Spur.)

Vielleicht hängt es mit der Suche nach diesen Lösungen zusammen, daß der Künstler, ganz ähnlich, wie es auch einmal der heute so hochangesehene Maler Rouault mit vielen eigenen Werken tat, ein gewaltiges Auto de F seiner ersten geistlichen Bilder veranstaltet hat, dem manches Dutzend Arbeiten zum Opfer fiel. Wir können das bedauern, wie wir bedauern, daß Kleist zwei Akte seines „Robert Guiscard“ ins Feuer seines Pariser Kamins geworfen hat, weil der Schluß erlaubt ist, daß sowohl der Maler wie der Dichter damit der Nachwelt geistig hochwertige Dinge vorenthalten haben. Aber die Fülle der uns gebliebenen geistlichen Bilder entschädigt uns überreichlich, während Kleist sein eigentliches Meisterwerk vernichtet hat und dann in Schweigen, schließlich gar in das grausige Schweigen der Selbstvernichtung gesunken ist. Und wir dürfen vermuten, daß bei Bô Yin Râ ein Akt echter Selbstkritik zu jener Handlung führte, weil diese einzigartige Menschengestalt immer im Einklang mit den höchsten Kriterien geistiger Wahrheit und Wirklichkeit zu leben und zu wirken hatte.

Wie schon gesagt, ist die physische Welt, in der wir leben und wahrnehmen, eine Art Abstraktion, eine verkürzende und gleichsam petrifizierte Projektion der geistigen Schöpfungswelten. Wenn Bô Yin Râ die Struktur solchen Jenseits und seine eigenen Wahrnehmungen daraus in unsere Daseinsoptik übertragen wollte, so genügte es nicht, das alles unserem System der Zentralperspektive anzugleichen. Er vermeidet sogar alle Mittel, die auf Illusion und Fiktion abzielen, um so mehr, als in den reinsten und lichtesten Geistesräumen Täuschung und Nachahmung keine Möglichkeit finden und keine Stätte haben. Die geistlichen Bilder sind überhaupt nicht tiefenhaft, sondern flächenhaft gestaltet. Nahezu alle Bildkomponenten und Symbole geistiger Figur entwickeln sich blattartig zweidimensional und schieben sich so nebeneinander, übereinander und hintereinander, daß sie dennoch gleichsam immer den nämlichen Flächenraum haben. Das gilt sogar von den kugeligen oder kuppeligen, säuligen oder kelchigen Formen, die fast planimetrisch wirken. Wenn wir gleichwohl vor allen diesen Bildern das Gefühl beispielloser Fernen und Raumtiefen haben, in die wir uns geradezu hineingerissen glauben, so sind es die Umrisse der Einzelform und die Licht- und Empfindungswerte der Farben, welche diese Wirkung auf das Gemüt ausüben. Es flutet in erhabener Bewegung von Symbolen, die Kunde bringen von sprechender, leuchtender, tönender Wirklichkeit. Es sind unerwartete und doch im innersten Selbst ersehnte und magisch geladene Konfigurationen, von deren Anblick man sich angespornt fühlt zu Selbstläuterung und reinerer Abstimmung der Seelenharfe, auf daß der Tag komme, an dem das höhere Bewußtsein aufbricht und die eigene Entelechie im Strahlenbund ewigen Seins aufleuchtet. Ein Gnadenschatz von Segen ist in solchen Bildern aufgespeichert, und ein jeder kann an diesem Brunnen trinken, der guten Willens ist. Es gibt auch in jenen Himmeln so etwas wie eine Opposition, aber sie manifestiert sich weder gehässig noch teuflisch, vielmehr wirkt sie regelnd und ordnend, bändigt den Überschwang, lindert das Entzücken, damit es nun und nimmer zur Qual werde für noch nicht Ausgereifte.

In jener so wunderbar die letzten Dinge erschließenden Spätschrift, genannt „Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk“, spricht Bô Yin Râ auch von den Symbolen der heiligen Grotten und Höhlen, zu denen die geistige Einstrahlung vom Tempel der Ewigkeit auf hohen Bergen durch das von erdenmenschlicher Aura nicht beschädigte Innere unseres Planeten hingelangt. Wir können fast durchwegs an den geistlichen Bildern die Beobachtung machen, daß sie schon an und für sich wie solch heilige Grotten und Höhlen anmuten, als etwas in Tiefen Verschlossenes, aber nach einer lichten Mitte Hinstrebendes und sich anbetend Öffnendes, gewärtig der segnenden Einstrahlung von höchsten Bekundungen der Lichtwelt, deren Symbole als blauer oder goldener Himmel, hohe Berge, Sonnenentelechien, blitzende Sterne seraphische Gloriolen, leuchtendes Gewölk aus Seelenkräften und dergleichen mehr erblickt werden.

Schon auf dem ersten Bilde des Weltenzyklus, welches vom Künstler „Emanation“ genannt worden ist, können wir das soeben Bemerkte bestätigt sehen. Aber die Wände dieser Höhlen bestehen nicht aus starrem Gestein, sondern aus lebendigen, ungemein wirkungsträchtigen Kraftfeldern in flächiger Lamellenform unterschiedlichster, eine mächtige Symbolsprache sprechender Gestalt. Dieses Lamellige beschränkt sich aber keineswegs auf die Höhle, auf den Rahmen, auf die Auf3enkulissen oder wie man es nennen mag. Das gilt auch von den Gebilden und Gefügen, der Lichtmitte oder lichten Höhe, denen wir auf manchen Bildern begegnen; hier öffnet sich der sonst ringsum laufende Kulissenrahmen oben und verzichtet sozusagen auf die Soffitten, um mich hier der aus dem Italienischen stammenden Theatersprache zu bedienen. Besonders eindrücklich wird die Lamellenstruktur eines Lichtgefüges auf der Komposition „Lux in tenebris“. Das strahlige Licht des Geisteshimmels über dem goldenen Altar und den dunkelblauen Adorantenpfeilern ist hier aus lauter scheibenhaften und vielfarbigen Dreiecken und Pyramidenprojektionen zusammengeschlossen, dank deren Einklang uns blitzartig und wortlos anschaulich werden kann, was unter der im Lehrwerk immer wieder behandelten Einung der Seelenkräfte zu verstehen ist.

Ich fühle mich mitunter versucht, alle diese Gestaltungen geradezu als Gnadenbilder anzusprechen. Wenn wir also auf den spirituellen Bildkompositionen fortgesetzt flächigen, hautigen, blättrigen, kurzum lamelligen Gebilden begegnen, die es in sich haben, Symbolkleid von Lichtgedanken werden zu können, so ist hier einiges Verweilen bei der Lamelle geboten. Im großen Ganzen kann ich hier nur, wenn auch erheblich verkürzt, wiederholen, was ich vor langer Zeit einmal über die Lamelle als Mutterform der Erscheinung in der heute wohl ziemlich vergessenen Zeitschrift „Die Säule“ auf Grund von ausführlichen Gesprächen mit Bô Yin Râ — wo er, wie zumeist, der Gebende, ich der Nehmende gewesen — veröffentlicht habe.

Als Kronzeuge für generelle Blattstruktur (im Aufbau der Pflanze zumindest) sei Goethe genannt, der 1790 in Italien notiert: „Alles ist Blatt, und durch diese Einfachheit ist die größte Mannigfaltigkeit möglich. Er sieht nicht nur das grüne Blatt, sondern auch Wurzel, Stiel, Blüte, Zwiebel usw. als Blatt. Das Blatt nun tritt im gesamten offenbarten geistigen und physischen Kosmos n Erscheinung. Manche oder viele unter Ihnen werden sich erinnern, wie die Architektur dieses Kosmos beschaffen ist. Bô Yin Râ sagt es an vielen Stellen seiner Schriften, und ich selber habe manches von ihm Vernommene in dem Kapitel „Grundzüge des Weltallgefüges“ (im Buche über den Maler Bô Yin Râ) dank meinen Aufzeichnungen aus Gesprächen mit dem Meister mitteilen dürfen . Es wurde gesagt, das Weltall sei eine Hohlkugel, vorgestellt durch die im Mittelpunkt urlichtende und urständende Gottheit als Wirkungsraum ihrer zu Erscheinung drängenden Selbstgestaltung, einbegreifend auch den eigenen Gegensatz an der starren Nichtswand der Weltsphäre, in deren Allrund eine Art Indifferenzzone ist, wo die positive Strahlung der Ursonne und die negative Wirkung der Wandstarre, bzw. der dort eine spröde Kruste bildenden Widerstandskräfte, einander die Waage halten. Diese Widerstände sind notwendig, um Gestalt und Form möglich zu machen. Abgrundlüstern drangen gewisse Entelechienschwärme der göttlichen Emanation, Menschenseelen mit einem Wort, hier ein; der Mythos kündet davon als Engelsturz, Sündenfall und Lichtraubsage. Notwendig war das Eindringen licht- geborener Wesen nicht. Genug, die Widerstandskräfte zeigen im anfänglichen Zustand die Form der hauchdünnen Lamelle, die sich knittern, rollen, einkugeln und beliebig dimensionieren kann. Sie sind geistig Stoff und Kraft zugleich, geschmeidig und durchdringlich. Ihre Äußerung ist stets lnfluenz und bedarf nicht erst der Berührung, um zu wirken. Ihre Aufgabe ist, Haut, Hülle, Kleid zu bilden und Bewegung zu lenken. Sie sind Werkzeuge und lnfluenzen zur Selbsterkenntnis des einzig Wirklichen. Form und Gestaltung im makrokosmischen und mikrokosmischen Haushalt stellen gewissermaßen Etappen der Selbsterkenntnis dar.

Dieses urtümliche Formprinzip schlägt denn auch in unserer materiellen Welt in allen Erscheinungen durch, und es wird angebracht sein, es durch eine Reihe von Beispielen zu erhärten, und zwar sowohl, wenn sich Kraft äußert, als auch, wenn Stoff Gestalt annimmt. Die Grenzen zwischen beiden sind fließend; die moderne Wissenschaft macht ohnehin, soviel ich sehe, zwischen Physik und Chemie nicht mehr den großen Unterschied von ehedem, wie ja auch im Anorganischen bereits das Biologische vorfühlbar ist.

Man hat den Funkenüberschlag von Starkströmen photographiert, und es zeigt sich, daß ein künstlicher Sturm eine dünne hautige Lichtsubstanz formt, die sich fältelt und flattert wie eine Fahne: die der geistigen Erscheinungsform der Lamelle angeglichene elektrische Kraft tritt plötzlich gestaltschöpferisch hervor, als echter, wiewohl gemeinhin im Dunkel materiellen Abgrunds sich verbergen müssender Bruder des Urlichts. Dieses Phänomen also, wie auch das kurzlebige und zweideutige der sogenannten Materialisationen durch lemurenbesessene Medien, deutet an, daß alle Erscheinung bis in die Abgründe hinab und bis in die Höhen hinauf Kleid und Draperie bleibt und daß die Lamelle selber ihrer Stammform nach das Gewandbildnerische ausdrückt. Denken Sie an das schöne Bild des aufflammenden Euphorion in Goethes dichterisch, aber auch seherisch, kaum auszuschöpfendem Faust!

Lamellige Form erkennen wir ferner in den Planetenbahnen und dem Kreislauf der Elektronen in aller Atomstruktur, im Ringsystem des Saturn und den fernen Nebelfiecken und Milchstraßen. Tierische Organismen sind ganz ebenso bis innen hinein Haut oder Epithel, wie die Pflanze Blatt ist. Der Anfangszustand des Embryos zeigt diesen ausschließlich als Epithel. Die spätere Differenzierung in Sinnes-, Drüsen-, Keim- und Deckepithel, Bindesubstanz in Knorpel, Knochen usw., Muskel- und Nervengeweben wird uns allemal wieder das Urmodell der Lamelle verraten, auch wenn und gerade wenn die dünne flächige Grundform sich in zylindrische, kuglige oder sonstige Gestalt verwandelt.

In den fein gegitterten Schichten der Kristallsysteme begegnet uns die Lamelle in besonders klarer Form. Sie ist da in der Struktur des Pilzes, den Schuppen der Echsen und Fische, Flügel und Panzer der Insekten, Perlmutterschichten und Häusern der Muscheln und Schnecken, dem blättrigen Gebilde von Schiefer und Glimmer, der Eisdecke von Gewässern, allem Schollenbruch von Erdrevolutionen, ganzen Tafelbergen; sie ist da in der Gewandung des Menschen, seinen Schreibdokumenten, dem Buchblatt, Teppich, Goldnimbus der Heiligkeit, Baldachin, in aller Töpferei, im Geld als Münze oder Anweisungsblatt, in Wand und Dach, in der Hostie. Die vollkommensten Varianten der Lamelle auf irdischem Plan möchte freilich die wie aus himmlischen Bezirken hierher verschlagene Erscheinung der Blumen und Blüten sein! Und — vergessen Sie nicht die menschliche Hand!

Es ist also die Form der Schale mit dem ganzen Reichtum der Wortbedeutung im Deutschen, welche die Struktur im geistigen und physischen Universum angibt. Die Kabbala nennt alles dem Göttlichen Widersetzliche und Sündhafte: Schale oder Rinde, die im Lichtfeuer reingeglüht werden müssen. Vielleicht können sie auch untere und mangelhafte Grade des Bewußtseins darstellen. Sehr geheimnisvoll sagt deswegen Goethe im Eingangschor zum zweiten Teil des Faust:

„Schlaf ist Schale, wirf sie fort!
Säume nicht, dich zu erdreisten,
Wenn die Menge zaudernd schweift;
Alles kann der Edle leisten,
Der versteht und rasch ergreift.“

Wenn wir uns erinnern, daß dann der Dichter bemerkt, ungeheures Getöse verkünde das Herannahen der Sonne, so können wir diese Stellen wie einen musikalischen Prologus zu den uns beschäftigenden Bildern empfinden, um so mehr, als nun die Verse erklingen:

“Tönend wird für Geistesohren
Schon der neue Tag geboren.“

Und andererseits seien wir der Schalen des Zorns und der Schale des Grals eingedenk!

So sind wir wohl ein wenig gestimmt und vorbereitet, um des Symbol- und Wirklichkeitsgehaltes in den geistlichen Bildern besser und rascher inne zu werden. Damit möchte ich sogen, daß die aus allen irdischen Gebilden hervorschimmernde Symbolik eines Geistigen (obgleich darin auch reichlich die Aftersymbolik des Widergeistes sich breit macht) uns leichter in den Fall setzt, die Symbolsprache der unmittelbar aus dem geistigen Raum geholten Formen und Lichtschleier zu begreifen, eine Jenseitssprache, die freilich durch unsere Worte und Begriffe nie ganz ergründbar, ausdeutbar und übertragbar ist. Aber wir wollen versuchen, den Sinn und die fördernde Kraft dieser Umrisse und Farbergüsse zu ahnen, wobei wir uns dessen bewußt bleiben müssen, daß wir nur Stückwerk leisten, indem wir nichts weiter vermögen, als Einzelheiten aufs Korn zu nehmen, solche Einzelheiten, die mehr oder weniger oft in ähnlicher Gestalt auf den Bildern wiederkehren und eine besondere motorische Macht über das Ganze auszuüben scheinen.

An den Anfang möchte ich ein Menetekel stellen: die Sägeform auf dem erschauern machenden Bilde Sodom“, die sich emportürmt und gleichsam höllisch sieghaft verselbständigt. Sie wirkt wie ein Monument intellektueller Wollust, die mit manischer Erklärungswut, analytischer Kritik, Wissenswahn und nihilistischem Größenwahn alles zu zersägen und zu deformieren sucht. Es ist beobachtet worden, daß in der moderneren Kunst, die bei allem Abrücken von gegenständlicher Fiktion dennoch, ob sie will oder nicht, auf symbolische Formen gerät, die Säge gar nicht selten auftaucht. Kein Wunder, daß die so allgemeine Versessenheit auf Zerstörung, Zersplitterung, Atomisierung, Lärm, Raserei usw. auf das zackige Symbol der Formzerreißung an sich, also die Säge, gerät.

Nun ist die Umrißform der Säge fast die nämliche wie diejenige der Treppe, nur, daß sie um einen halben rechten Winkel aus dem Lot geraten ist; mithin kann man, im Gleichnis gesprochen, auf ihr weder aufwärts noch abwärts gehen: die Stufen sind zu Zähnen geworden, in denen man hängen bleibt, um ihnen rettungslos zu verfallen. Die rechtwinkelige, zugleich lot- und waagrechte Treppenform aber finden wir, nach innen oder außen gerichtet, oft in Bô Yin Râ’s Kunst — es gibt ja auf diesen Bildern nur ästhetisch, aber nicht gegenständlich ein Oben und Unten; es gibt lediglich Lichtnähe und Lichtferne, Zentrum und Wandkruste. Die Symbolik der Treppenform ist so einfach wie möglich und bedarf keiner besonderen Erörterung.

Jetzt, wo wir die Treppe und die Säge betrachtet und ihren Gemüts- und Erlebniswert eingesehen haben, werden wir auch allmählich bemerken, daß der Wirklichkeitsgehalt und die Gleichniskraft aller dieser Lamellenumrisse und Farbtöne nicht gar so schwer zu fassen sind, wofern man sich an die Sache nicht nur mit dem Gehirn macht, das es nun einmal in sich hat, alle Dinge maßlos zu komplizieren.

Der Geist aber ist wunderbar einfach und gerade deswegen uns scheinbar so ferne, weil wir in einer der verwickeltsten aller Welten stecken, die von Labyrinthen und unbegreiflichen Zufälligkeiten wimmelt. Dennoch begreifen wir das Komplizierte meistens viel leichter als das Einfache, und deswegen scheinen uns auf den ersten Blick die uns gegenständlich vertrauten Landschaftsbilder Bô Yin Râ’s einfacher als die geistlichen, obwohl sie — bei aller künstlerischen Klarheit und Vereinfachung — komplizierter ausfallen mußten, da ja die irdische Natur, selbst im klassischen Süden, im Widerstreit der Elemente und in der Fesselung durch zahllose Bedingtheiten nie wirklich einfach zu sein vermag.

Es wird daher eher störend und verwirrend wirken, wenn man Symbole wie die Kugel, den Stern, den Strahl, den Stachel, das pyramidische Dreieck, das kubische oder altarhafte Rechteck, das kristallische Kleinod durch mehr oder minder spitzfindige, auch etwa platte Deutungen zerredet, da sie unmittelbar auf jedes unverbildete Gemüt einwirken. Aber man darf betonen, daß diese und viele andere, ja alle Urgestaltungskräfte in Form und Macht an sich nichts mit dem zu schaffen haben, was wir Moral und Ethos nennen. Sie nehmen deren Farbe erst an, wenn sie in ein Zusammenspiel mit individuellen, meist in Sphärengestalt auftretenden Entelechien geraten. Deswegen habe ich auch vorhin betont, daß man auf einer Treppe hinauf- und hinuntergehen kann. An sich hat das mit Ethos und Moral nichts zu schaffen. Ein anderes jedoch ist es, ob eine Entelechie steigt oder fällt Um solches aber, um die Selbstentfaltung der Entelechie „nach dem Bilde Gottes“ geht es und dreht es sich in diesen Konzertstücken der Sphärenharmonie. Selbstgestaltende Sphären und mitgestaltende Urseinslamellen, die influenzierend, dirigierend, formend, vortreibend, Einhalt gebietend, widerstehend, lockend, abweisend, abschreckend, je nachdem, wirken. Und wenn im Zyklus, den der Künstler paradigmatisch unter der Bezeichnung „Welten“ zusammengestellt hat, auch Bilder wie „Labyrinth“, „Astrallicht“, „Sodom“ und „Inferno“ erscheinen, so stellen sie sich auf den ersten Blick hin als Warnungen heraus, als weit mehr mithin denn bloßes künstlerisch-ästhetisches Spiel mit verfänglichen Gegenständen und gefährlichen Stoffen.

Denn es ist immer daran festzuhalten, daß Bô Yin Râ seine geistlichen Bilder zum Lehrwerk gerechnet wissen wollte. Sie sind, gewiß! künstlerische Gaben — wie übrigens auch die Schriften selber —‚ aber, gleich hellenischen Tempeln, Götterbildern und Dramen oder mittelalterlichen Kathedralen, Altarwerken, Kapellen, Pforten, ganz und gar geist- und gottbezogen, daher magisch wirksam. Sie könnten beispielgebend auf das sonderbare und trotzige, bis zur Verzweiflung eigenbrötlerische Spiel unserer zeitgenössischen Künste einwirken, die sich gar zu sehr in die Thebais oft sinnloser Selbstkasteiung und des Unverstandenseinwollens zurückgezogen haben, wohl wissend, daß das schöne und bloß-ästhetische Spiel zu Ende gespielt ist.

Aber es wird die Zeit kommen, wo der lenkende Einfluß der Werke, von denen hier die Rede ist, sich geltend machen muß, ganz genau so wie Gehalt und Wortmagie der Schriften, die einstweilen gar zu oft als Sektentraktate oder Religionsmanifeste und dergleichen mißverstanden werden, ihren Segen einer willigeren Welt dereinst spenden sollen. (Nebenbei bemerkt, schwebten den französischen Illuminaten und Dichtern, wie Baudelaire und Mallarmé, Wortmagie und Beschwörungsformel als Ziel der Kunst vor.)

Was die Formsymbole auf den Bildern angeht, so möchte ich noch auf zwei Gruppen von Gebilden hinweisen, die neben den doch wohl gar nicht so schwer faßbaren Sphären und Lamellengeschieben etwas sonderbarer und rätselhafter anmuten mögen. Zunächst gewisse fangarmartige, fingernde, molluskische, quallige irrlichtelierende, tropfende Formen, die fast nach Krankheit und Zersetzung schmecken, und pflanzlich-blättrig anmutende Gestaltungen, „nackte Zweige, Dornäste, schwingende gefiederte Gerten etwas, wie ich sie einst genannt habe. Von alledem ist zu sagen, daß es, auch wenn es vielfach mit bestimmten angekränkelten Bereichen des unabsehbaren Universums verbunden sein mag, darum an sich keineswegs negativ bewertet werden darf. Vielmehr ist es notwendig und trägt ganz besonders dazu bei, Not zu wenden, das heißt, in einer Art Fieber das Ungemäße verbrennen zu lassen. Es sind mitunter Kräfte, die in Versuchung führen, prüfen, sondieren, drosseln, würgen, leiden machen können, aber gleichwohl — um mich hier eines christlichen Begriffs zu bedienen — dem Erlösungsplan einbezogen, also Diener am Ewigen sind.

Die zweite Gruppe hinwiederum umfaßt die sonderbaren, allenthalben auf den geistlichen Bildern — und, nebenbei bemerkt, seitdem auf gar nicht wenigen Werken anderer moderner Künstler und Abstraktisten von großen, heute weithin hallenden Namen — vorkommenden und eine wichtige Funktion ausübenden Kolben, Widerhaken und Punkten. Erlauben Sie mir, hier meine eigenen Worte im Malerbuch zu zitieren: Diese Gebilde stehen gewissermaßen quer zu den andern Strebungen und haben ordnende und lenkende Aufgaben. Sie sind recht eigentlich von grundsätzlicher Bedeutung für das Zustandekommen von Gestaltbildung. Sie sind die Weberschiffchen im Weltengewebe, die den Einschlag besorgen. Musikalisch gesprochen, wäre ihre Wirkung für alle Dynamik, auch Synkopierung, verantwortlich. Sie sind geradezu Sachwalter des Gesetzes, sie ordnen und schmeidigen das universale Kräftespiel, willkommen dem Einsichtigen, bedrohlich dem Störrischen unter den Spielern.“

Damals war Hesses berühmte Geschichte von den Glasperlenspielern noch nicht geschrieben, aber ich habe so etwas Ähnliches gedacht und gemeint, nur in einem noch etwas umfassenderen Sinne. Handelt es sich hier doch stets um ein kosmisches „Glasperlenspiel“, das großmächtige Spiel der von so vielen echten Philosophen und Theosophen und Platonikern geahnten Sphärenmusik, in der alles, was wahrhaft erwacht und menschlich ist, mitmusiziert.

Musik ist nun einmal in diesen Bildern mit im Spiel, weil die kosmischen Urbilder dazu nicht bloß in Farbe und Umriß, sondern auch in Ton und Melos ihre Gestalt offenbaren, und dies nicht nut in irdischem Sinn, wo zum optischen Tatbestand stets auch das Geräusch als Komponente hinzutritt, sondern weil es sich in geistigen Bereichen nicht einfach um eine Gleichzeitigkeit von Sichtbarem und Hörbarem handelt, sondern um eine echte Konkordanz aus optischer und akustischer, rhythmisch gegliederter Harmonie, wo es kein Ungefähr, keine Täuschung, keine Überblendung, keine innere Differenz zwischen Wort und Gesicht geben kann. (Ein Rimbaud hat sich um gleiches, aber vergeblich, bemüht; als Dichter, versteht sich.) Farbe, Umriß und Ton entsprechen einander genau; wandelt sich etwas ab, so wandelt sich das übrige notwendigerweise im nämlichen Verhältnis ab. Deswegen wage ich zu sagen, daß alle diese in Rede stehenden Bilder musikalische Bilder sind. Das Musikalische darin ist sowohl in der Gesamtkornposition ersichtlich, als auch in ganz bestimmten Konfigurationen, die umittelbar als Klangformen erkennbar, beinahe hätte ich gesagt: hörbar sind. Diese Klangformen stellen sich gern dar als bauchige kuglige Wirbel, in denen ein andersfarbiger Kern zu stecken scheint; manchmal sind sie auch röhren- und trombenartig.

Jedem unbefangenen Betrachter wird es auffallen, daß diese Art Bilder weit farbiger sind als die Landschaften, die der Künstler gemalt hat. Es geht mitunter bis zur heitersten Buntheit, wobei ich dieses Wort in positivstem Sinne anwende, ohne mich an den tadelnden Beigeschmack zu kehren, den es im Atelierjargon bekommen mag. Es gilt für das Geistige ganz offenkundig, daß jede Kraft und insbesondere jede Entelechie nach betontester Eigenfarbe strebt. Die Sonnen und Kugeln, die herrlich dahin- schwebenden sphärischen Lichtgestalten und seraphischen Ringfiguren strahlen von Farbe, während die wolkigen Gebilde, als gewissermaßen soeben neu aus dem göttlich-zeugenden Prinzip entlassen, noch perlig grau und farbig, wie auch silhouetten- mäßig, unentwickelt sind — mit einem Wort: undifferenziert.

Es würde zu weit führen und wohl auch nachteilig sein oder gar nach Vermessenheit schmecken, wenn ich die reichen Farbwerte nach ihrem Symbolgehalt zergliederte. Hält hier das Gemüt des Beschauers nicht selber stille Antworten bereit, dann darf an den uralten Volksglauben appelliert werden, der sagt: grün ist die Hoffnung, blau ist die Treue, rot ist die Liebe, weiß ist die Unschuld. Mit dieser schönen, schlichten Erkenntnis, die nicht bloß Superstition ist und mit der — beiläufig bemerkt — die liturgischen Farben der priesterlichen Paramente in der katholischen Kirche übereinstimmen, fährt man gut. Wenn Sie sich erinnern, daß man auch sagt, gelb sei die Falschheit, so mag das daran liegen, daß unser irdisches Gelb, zumindest das künstliche, eigentlich eine mißlungene Imitation, kurzum eine Fälschung des geistigen Goldes ist. Schon wenn man die gelbe Blütenwelt anblickt, fällt das harte Urteil dahin; denn hier nähert sich alles bereits dem heiligen Gold des geistigen Lichtes, von dem uns die Schlüsselblumen und Immortellen, die Ranunkeln und Ringelblumen, die Mimosen und gelben Rosen in ihrer holden Sprache raunen. Wenig habe ich über die Landschaften des Künstlers und Schülers von Hans Thoma gesagt. Aber die sagen sich selber unserem irdischen Gesichtssinn ja so unmittelbar wie möglich aus. Ihre eigentümliche Reinheit und Klarheit, die das stoffliche Vorbild aus seinen Defekten und Zufälligkeiten diskret herauslöst, sind, wie schon bemerkt, für mein Empfinden kaum minder geistig als die symbolischen und magischen Abbilder der geistigen Räume. Sie sind wohltuende Zeugnisse eines Menschen, der ganz Liebe war und deswegen auch die Erde, so gegensätzlich und streng immer sie sein kann, mit der ganzen lnbrunst seiner hohen Seele geliebt hat. Liebe aber — nicht Neugierde und Ehrgeiz — führt zu echter Erkenntnis im Geiste. Nichterkenntnis ist Nichterkennen-Wollen aus Lieblosigkeit, daher Sünde und Schwäche. Alle echten Religionen in ihrem Reinheitszustande, alle wirklich Wissenden meinten geistige Erkenntnis. Taoismus meinte Erkenntnis durch selbstlos unbeschwerte Übereinstimmung mit dem Ganzen. Buddhismus meinte Erkenntnis durch Erbarmen und Loslösung. Christentum meinte Erkenntnis durch das dank der liebe in der Seele erwachte Himmelreich. Die Apolliniker Sokrates und Platon meinten Erkenntnis durch Schönheit und Güte. Die Kabbalisten und Chassidim meinten Erkenntnis durch Betrachtung und anbetende Bewunderung der Hypostasen oder Eigenschaften Gottes. Bô Yin Râ lehrte liebende Erkenntnis durch richtige Vorstellungen, Selbstvertrauen und entsprechende Lebensführung. So machte er dem Erdenmenschen den eigenen Lebensgrund erfahrbar, als Religion an sich.

Alle meinen das gleiche: Erlösung durch das Liebesfeuer der Erkenntnis.

Rolf Schott
Rom 1957.

 

 

Home Nach oben Struktur Symbolform Geistliche Bilder I Geistliche Bilder II Welten

09.11.2012