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evor wir uns nun der Frage zuwenden, ob und wenn ja
was für eine Wirklichkeit hinter diesem Gralsmythos steht, stellen wir uns die Frage, ob
es ähnliche Legenden auch außerhalb des christlichen Raumes gibt.
Wie bereits erwähnt, berufen sich ja die mittelalterlichen Grals-Dichter
sehr oft auf ältere, vor allem orientalische, Vorbilder. Es müssten also im Orient
heute noch ähnliche Legenden lebendig sein.
Wenn wir jetzt einmal vom Gral selber etwas absehen, und unser Augenmerk
vor allem auf den heiligen Bezirk, die Burg bzw. den Tempel und die Ritterschaft richten,
dann finden wir, dass es solche Legenden im Orient sehr wohl heute noch gibt, ja sie sind
sogar äußerst zahlreich und populär.
Die verbreitetste und bekannteste dieser Legende ist diejenige von
Shambhala.
Die ersten Hinweise auf Shambhala sind in den heiligen Büchern des
tibetischen Buddhismus enthalten. Wir finden sie im Kangyur und Tengyur, dem aus mehr als
dreihundert Bänden bestehenden tibetischen buddhistischen Kanon.
Über die geheimsten Aspekte Shambhalas ist jedoch niemals etwas zu Papier
gebracht worden. Sie werden nur mündlich vom Lehrer zum Schüler weitergegeben.
Interessant ist, dass die ältesten Shambalah betreffenden Bände
ungefähr im elften Jahrhundert aus dem Sanskrit ins Tibetische übersetzt wurden.
Nach den frühesten Schriften liegt Shambalah im Gebiet des Himalaja oder
nördlich davon. Es ist vollkommen von einem Ring aus Schneebergen umgeben, deren
Gletscher funkeln und glitzern. Keiner, der nicht an diesen Ort gehört, kann sie
passieren. Die Texte lassen durchblicken, dass man diese Schneeberge nur im Fluge
überqueren kann, doch wird betont, dass es sich damit um eine Art Flug handelt, der auf
spirituelle Kräfte zurückgeht. Ein Bild zeigt z.B. eine Reihe von Reisenden, die auf
einer Regenbogenbrücke nach Shambhala wandern. Shambhala ist in acht Regionen mit je
zwölf Fürstentümern aufgeteilt.
Im Zentrum des Königreiches liegt Kalapa, die Hauptstadt von Shambhala.
Östlich und westlich davon liegen zwei wunderschöne Seen, wie ein
Halbmond und eine Mondsichel geformt und mit Juwelen angefüllt.
Südlich von Kalapa befindet sich ein heiliger Hain, Malaya, der
"kühle Hain". Hier baute der erste König von Shambhala eine gewaltiges
Mandala, einen mystischen Kreis, der die Essenz der geheimen Lehren verkörpert. Ein
Symbol für die transzendente Einheit von Geist und Universum.
Nach Norden erheben sich zehn zerklüftete Felsengebirge, welche Schreine
wichtiger Gottheiten bergen.
Der Juwelenpalast des Königs im Zentrum von Shambhala leuchtet und
strahlt so hell, dass die Nacht zum Tage und der Mond zu einem trüben Himmelslicht wird.
Verschiedene Kristalle, die im Boden und in der Decke eingelassen wurden,
regulieren die Raumtemperatur, indem sie entweder kühlen oder wärmen. .....
Die Tibeter verstehen das Sanskrit-Wort Shambhala als "Quelle der
Freude"
Jeder König von Shambhala ist ein Bodhisattwa, d.h. ein Mensch, der
Nirwana erreicht hat und lediglich aus Mitgefühl mit den Menschen in der Welt bleibt.
Alle diese wunderbaren Beschreibungen könnten den Schluss
nahe legen, dass
es sich bei Shambhala um eine Wunschvorstellung oder eine Art jenseitigen Himmels handle.
Bernwald, der dies dem Dalai Lama gegenüber andeutete erhielt die
entschiedene Antwort. "... Diese Ansicht ist mit Sicherheit falsch. Shambhala besitzt
eine materielle Existenz und befindet sich auf dieser Welt."
Alle anderen Lamas, mit denen Bernbaum über Shambhala sprechen konnte,
betonten, dass es Shambhala seit Anbeginn der Welt gegeben habe, dass aber über seine
frühere Geschichte nur wenig bekannt sei.
Interessant ist, dass auch die Bön-pas, die Anhänger der alten,
vorbuddhistischen Religion ähnliche Überlieferungen besitzen. Bei ihnen
heißt Shambhala
Olmolungring und ist ein unsichtbares, von Schneebergen umgebenes Königreich nordwestlich
von Tibet. Ihre Texte gehen auf mündliche Überlieferung zurück, die fast 18'000 Jahre
alt sind.
Angesichts des Alters und der geographischen Verbreitung dieser Legende,
handelt es sich hier sicher um das Urbild aller anderen ähnlichen Mythen und somit auch
der Gralslegende. Im Osten ist die Legende von Shambhala mit derjenigen des Kalachakra
verknüpft. Es handelt sich dabei um eine Art östliche Variante der Offenbarung des
Johannes und (wie bei dieser übrigens auch!) gleichzeitig um eine sehr wirkungsvolle
Methode der geistigen Entwicklung. Das Kalacakra ist das komplexeste und geheimste
Lehrsystem des tibetischen Buddhismus. Die Lamas betonen, dass nur wenige Menschen, die
nicht Bewohner von Shambhala sind, die Symbolik der Texte und Meditationen des Kalacakra
verstehen könnten.
Das Kalachakra berichtet auch von einem künftigen Buddha und Retter der
Menschheit, einer endgültige Entscheidungsschlacht und einem neuen friedlichen Zeitalter.
Die Legende von Shambhala und diejenige des Kalachakra wurden im Osten
miteinander verschmolzen, während deren Abbilder bei uns: die Offenbarung des Johannes
und die Gralslegende, zwei getrennte Sagenkreise bilden.