Leben und Werk
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Aufgabe


Der Sinn des bestimmten Menschenlebens, von welchem in der nachfolgenden Schrift berichtet werden soll, ist Darreichung des Wahren, Guten und Schönen gewesen. Was der unter dem Insiegel des Namens Bô Yin Râ bekannt gewordene Mann fühlte, dachte, lebte, malte und niederschrieb, beruhte auf einer inwendigen Erfahrung, die als Wegleitung mitzuteilen ihm aufgetragen war. Es wird, so weit das überhaupt möglich ist, zu zeigen sein, dass Bô Yin Râ zu den Wenigen gehörte, die mit der besagten Erfahrung völlig Ernst zu machen verstanden und demgemäß ihr Selbst mit dem zur Deckung brachten, was sie schaffend und erlebend darzubieten versuchten. Versuch ist ja alles, auch das erhabenste Erdenleben, nämlich der Versuchung und Fallibilität ausgesetzt, dem Gesetz der Schwere und der Vergänglichkeit. So ist denn auch die Form, in der ein Geoffenbartes – nennen wir es einmal so – dargeboten wird, vergänglich, und der an sich unvergängliche Inhalt kann durch das allmähliche Vergehen und Unverständlichwerden der Form zugeschüttet werden. Deswegen wird es sich ergeben, dass das Wahre, Gute und Schöne mitunter in einer neuen, der Zeit angemessenen Form den Menschen dargereicht werden muss. Sind doch auch alle als heilig angepriesenen Bücher dem Gesetz der Vergänglichkeit ausgesetzt, das sie zerstört, unverständlich macht und der Vergessenheit schließlich preisgibt.

Es soll nichts weniger gewagt werden als der Nachweis, dass Bô Yin Râ mit voller geistiger Ermächtigung das inwendig Wahre, Gute und Schöne, den Ausdruck der gestaltenden Urliebe, in einer unserer Zeit entsprechenden und klaren Wortform wiederum zur Darstellung gebracht hat, in einem geschichtlichen Moment also, da die alten geheiligten Quellen nahezu verschüttet, die alten heiligen Bücher bis zur Undeutlichkeit verblasst sind und teils unsicher oder willkürlich, teils flach oder mechanisch ausgelegt werden.

Freilich muss darauf hingewiesen werden, dass eine inwendige Erfahrung nicht ohne weiteres übertragbar ist. Wenn nämlich ein Mensch vom Wahren, Guten und Schönen etwas vernimmt oder ihm in irgendwelcher Weise begegnet, so wird er dadurch noch nicht wahr, gut und schön, sondern bestenfalls angeregt, den Entschluss zur Verwirklichung von Wahrheit, Güte und Schönheit in ihm selber zu fassen. Die Wegweisung, der er sich anvertraut, ist vorläufig für ihn gewissermaßen eine Arbeitshypothese, wie das Aldous Huxley mit Recht genannt hat. Bewährt sich die Hypothese weiterhin als fruchtbar, dann kann sie ihm zu einer Art von Dogma werden. Begnügt er sich mit ihr als einem Dogma, dann bleibt er auf dem Wege stehen, vermeinend, er sei nun geistig gesichert und eingedeckt, und hat damit wenig oder gar nichts gewonnen. Geht er aber weiter, bis dass die Hypothese sich ihm als restlos redliche und zuverlässige Führung enthüllt hat, dann erst verwirklichen sich seiner inneren und untrüglichen Erfahrung die aus der Liebe hervorgehenden Erlebnisse der Wahrheit, Güte und Schönheit, dann erst gewinnt er jene beseligende Erweiterung des Bewusstseins, die Jesus das Gottesreich genannt hat. 

Diese Schrift wagt sich also an die Untersuchung, ob Bô Yin Râ's Leben und Werk eine Wegweisung geleistet haben, die dem Menschen der Gegenwart und der herannahenden Zeiten zu beglückender Bewusstseinserweiterung und echter Selbstverwirklichung verhelfen kann, zu jenem Ziel, welches Himmelreich, Tao, Brahman usw. geheißen worden ist und das Bô Yin Râ ‹die Geburt des lebendigen Gottes im Ich› genannt hat. Seit alters sagt man, dass viele Wege nach Rom führen. Gelänge der Nachweis, dass der von Bô Yin Râ gezeigte Weg ‹nach Rom› führt, so wäre viel gewonnen (es muss wohl nicht erst gesagt werden, dass ‹Rom› hier in einem völlig geistigen und nicht eng christlich-katholischen Sinn gemeint ist), aber noch nicht dargetan, dass diese Wegweisung einen Vorzug vor den vielen alten, sicherlich immer noch einigermaßen gangbaren Wegen verdiene. Es soll jedoch versucht werden, zu zeigen, dass die hier in Rede stehende Wegweisung deutlich und brauchbar genug ist, um den heutigen Menschen auf einer Bahn schreiten zu lassen, die sicherer und gangbarer ist als die vielen anderen Pfade, die ihm alte, vom Gestrüpp unbegreiflich gewordener Symbolik und Lebensform überwucherte Schriften und Lehren in mehr oder minder dunklen Worten angeben, ungerechnet die von Wirrköpfen, falschen Propheten, Betrügern und Schurken gezeigten Irrpfade. 

Gewiss reicht es für den Suchenden aus, sich den Weg von Bô Yin Râ selber und allein durch dessen eigene Schriften oder, wofern er sozusagen inwendig optisch begabt ist, durch dessen geistliche Bilder – es wird später zu zeigen sein, um was es sich da handelt – weisen zu lassen, anstatt dass ein Anderer, der über Bô Yin Râ schreibt, ihm erst gleichsam den Weg zum Weg angibt, nämlich versucht, ihn mit der Welt dieses Menschen und seines Werkes anzufreunden. Aber vielleicht erhofft man sich durch die Bürgschaft eines Anderen größere Sicherheit beim Vortasten in den Seelenraum eines bedeutenden Mannes. Und wenn dieser Mann vollends ein Kind unserer Zeit ist, erwartet man von dem über ihn Schreibenden, dass er die Vorurteile und das Misstrauen entkräfte, die sich unwillkürlich einstellen, zumal hier, wo Einer einen so sonderbar anmutenden Namen führt, von ‹Leuchtenden› spricht, sich gar selber als einen dieser Leuchtenden bezeichnet und überhaupt von Gott und göttlichen Dingen redet, dazu keineswegs als klassifizierter Gemeindeprediger oder Hochschultheologe; mithin von solchem, was die Philosophen teils als immanent, teils als transzendent bezeichnen und dessen weder irgendwo mit Händen greifbare, noch experimentell nachweisbare Existenz von den Menschen gemeinhin nur verneint, angezweifelt oder ‹geglaubt›, will heißen: aus Gefühls-, Traditions- oder Autoritätsgründen für wahr gehalten wird. 

Da kommt nun Einer und will die Geheimnisse des Lebens lüften, will den Mitmenschen helfen, vom Glauben zum Wissen zu gelangen, will ihnen dartun, dass die mehr oder minder deutlichen Behauptungen der großen Weltreligionen einer Wirklichkeit entsprechen, die nicht bloß geglaubt werden soll, sondern ganz einfach (einfach im geistigen Sinn) erfahren werden kann, vielmehr erfahren werden muss, damit der Erdenmensch endlich aus dem tierisch nachtwandlerischen Zustand herauskomme, zum wirklichen Menschentum, das Gotteskindschaft ist, sich durchringe und erwache! Wie soll man sich bei all dem Unfug und Schwindel, der das Chaos in der Welt immer mehr aufrührt, der Führung durch eine solche vorerst bedenklich stimmende ‹Offenbarungsliteratur› als Mensch mit gesunden Sinnen und klarem Verstand vernünftigerweise anvertrauen dürfen? 

Die Aufgabe dieses Buches besteht also darin, alle zunächst berechtigten Bedenken durch Tatsachen und deren Erläuterung zu zerstreuen und den Zugang zu der Welt von Büchern und Bildern, die mit dem exotisch und unverständlich klingenden Namen Bô Yin Râ gezeichnet sind, zu erleichtern. Sie besteht darin, den Sinn dieses Lebens als mit den erwähnten Schriften und optisch farbigen Formen übereinstimmend herauszuarbeiten. Das Buch kann und darf mithin keine Biographie im landläufigen Sinne sein. Niemandem würde gedient sein, wenn man den alltäglichen Kleinkram dieses Menschenlebens – kein Menschenleben kann je davon frei bleiben – in möglichster Vollzähligkeit hier ausbreitete, in seinen irdischen Bedingtheiten und in seinem Sinnendasein herumstöberte und alles das hervorzerrte, was weder in diesem Falle, noch in den meisten anderen Fällen zu wissen nottut und nur niedrige, sich gerne als Wissenschaft maskierende Neugierde vorübergehend befriedigt, vor allem aber in keine äonische Biographie hineingehört und dem Gesetz der Vergänglichkeit in der erschreckendsten Weise unterliegt. Es wird folglich das Leben dieses Lebenslehrers nur insofern zu betrachten sein, als es beispielhaft, als es paradigmatisch, als es gewissermaßen Krugform gewesen ist, in der sich das Wasser des Lebens ansammeln konnte, um durch das Mittel des Wortes und farbiger Gestaltung den darnach dürstenden Menschen unserer und künftiger Zeitläufte dargeboten zu werden. Mithin wird von diesem Leben nur mittelbar und andeutungsweise von seinem Sinne jedoch unmittelbar die Rede sein müssen, damit den Menschen der köstliche Wert dieser Lebensfrucht einleuchte und der Wunsch in ihnen wach werde, sie zu pflücken und dadurch erst richtig Mensch und bewusst und glücklich zu werden. 

Ein angesehener und bedächtiger, nüchterner und doch phantasievoller, ungemein gebildeter und kluger Schweizer sagte zu dem Schreiber dieser Zeilen über Bô Yin Râ einmal: 

‹Er war ein gewaltiger Mann!› Dieses Wort fasste ganz knapp den Empfindungsinhalt zusammen, den der mit Ergriffenheit auf eine langjährige Freundschaft mit Bô Yin Râ zurückblickende Verfasser von dem ungewöhnlichen Menschen bewahrt hat. Er will nun versuchen, darzulegen, inwiefern jenes Wort zu Recht besteht. Herrlich ja sind einzig die Beispiele, die uns zeigen, wie man aus dem Zustand der Verblendung und Erniedrigung, aus der ‹Kollektivhypnose› des materiellen Daseins durch einen geistigen Prozess heraustritt. Sie allein zeigen, wenn das nicht schon die Blumen und die Kinder, die Tempel und das blaue Meer vermögen, dass es sich lohnt zu leben.

 Rom, Frühjahr 1950

Auszug aus dem Buch:

Bô Yin Râ
Leben und Werk

von

RUDOLF SCHOTT

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Leben und Werk (pdf)

  

 

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09.11.2012