Ein Leben
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Ein Leben

von B.Y.R.

Die Menschen, denen ich das Leben danke, waren einfache Leute, aber beider Familien standen in ihrem Kreise in hohem Ansehen, das durch Besitz, Tüchtigkeit und persönliche Würde, mehr aber noch durch Rechtlichkeit und Wohltätigkeit begründet war.

Frömmigkeit, in den Formen der Kirche Roms, war erblich. Mein Vater, ein strenger Mann, dem alles Menschliche Sünde war, ist niemals lachend gesehen worden.

Meine Mutter, eine tiefreligiöse Frau, voll echter Mystik, lebte in ständiger Gemeinschaft mit den heiligen Wesen, die sie nach katholischer Lehre verehrte, und ihre Andacht war mehr ein Schauen als bloßer Glaube. Ich war etwa 7 Jahre und einige Tage alt, als zum erstenmal ein Bote jener Gemeinschaft, deren Bruder ich heute bin, sichtbar in mein Leben trat. —

An einem strahlend schönen Sonntag-Morgen lag ich, erfrischt durch einen gesunden Kinderschlaf, bereits völlig erwacht in meinem kleinen Bette.

Die Sonne schien durch das geöffnete Fenster und erfüllte den ganzen Raum mit Licht.

Die Mutter war zur „Frühmesse“ gegangen, während wohl der Vater, wie es seine Gewohnheit auch später war, in dem alten Predigtbuch, dem Geschenk eines verstorbenen geistlichen Freundes, die auf den Sonntag gerade bezügliche Predigt las.

Ich hatte nur die Mutter gesehen, bevor sie zur Kirche ging.

Während ich nun so lag, in hoher Erwartung der Rückkehr der Mutter, — plötzlich, ohne dass eine Türe sich geöffnet hätte, stand zu Füßen meines Bettes ein alter Mann im Sonnenschein, angetan mit seltsamen und mir recht ärmlich erscheinenden dicken Wintergewändern. (Heute weiß ich, dass es die im Innern Hochasiens übliche Wintertracht war).

Ich sah sein braunes durchfurchtes Gesicht und glaubte zuerst, es sei ein alter Bettler, der öfter ins Haus kam um ein Essen zu erhalten.

Erschreckt schrie ich auf.

Der Vater, seit Jahren sehr schwerhörig, konnte mich nicht vernehmen. Die Gestalt jedoch kehrte sich nicht an meinen Angstschrei und der Gesichtsausdruck des alten Mannes hatte etwas so unbeschreiblich Gütiges, dass ich sogleich darauf mich völlig sicher fühlte.

Ich „wusste“, dass er irgend etwas Gutes für mich hier zu tun habe, ohne mir Rechenschaft zu geben darüber, was das wohl wäre. — Mit einem Gefühl der Neugierde und des Vertrauens zugleich betrachtete ich bald das faltige, und so unendlich gütige Gesicht, bald den seltsamen Mantel, der mir besonders merkwürdig war, weil die Ärmel viel zu lang und weit über die Hände herabreichten. Bilder, auf denen so etwas dargestellt gewesen wäre, hatte ich niemals gesehen.

Da hob er langsam und bedächtig den Arm, streifte den überlangen Ärmel zurück, und kam zur Seite meines Bettes.

Ich war so unerklärlich vertrauensvoll, dass ich es diesmal, ohne zu schreien und ganz von Angst befreit, geschehen ließ, dass er mit der rechten Hand, einer Hand mit vornehmen feinen Fingern, langsam über meine Decke strich. Dabei verweilte er Augenblicke über meinen Füßen, über den Knien, dann über dem Herzen und zuletzt legte er die feine zarte Hand auf meine Stirne.

Dabei schlief ich ein. — —

Ich erwachte erst, als längst die Mutter von der Kirche zurückgekommen war.

„Wo ist der Mann? — Wer war denn der Mann? — Er muß ja noch hier sein. — Du weißt gewiß wer er Ist.“ —

So bestürmte ich meine Mutter mit Fragen, die sie ängstlich bestürzt anhörte.

Nachdem auch der Vater meine Worte gehört hatte, wurde zu meinem größten Leidwesen entschieden, ich dürfe heute nicht mit zum Hoch-Amt, sondern müsse mich ausschlafen.

Nach dem Frühstück wurde das Zimmer verdunkelt, alles Protestieren half nichts, und ich mußte „schlafen.“

Ich schlief aber nicht —

Stets suchten meine Augen den alten Mann, jedoch er kam nicht wieder.

Dabei hatte ich eine brennende Sehnsucht nach ihm und versprach mir hoch und heilig, dass ich, wenn er wiederkäme, gewiß nicht mehr schreien würde. Er kam nicht, aber alles im Zimmer schien mir lebendig geworden.

Ich fühlte mich, wie wenn eine ganze Gesellschaft guter Leute um mich wäre. Dabei war mir leicht und so froh zumute, dass ich schließlich die Betthalt nicht mehr aushielt und unversehens, gewaschen und angezogen, neben der Mutter in der Küche stand. Sie mochte wohl sehen, dass mir nichts fehlte und so wurde mir erlaubt, hinab zum Garten zu gehen, wo ich noch den ganzen Morgen hinter jeden Busch und wo es nur ein Versteck gab, nach dein alten Manne suchte.

Alle Gärtnerburschen wurden befragt nach ihm und kein Auslachen konnte mich irre machen.

Ich wurde älter.

Das religiöse Leben, in der Art wie meine Mutter es pflegte und es mir nahelegte, übte große Anziehungskraft auf mich aus.

Im Übrigen war ich ein völlig normaler Junge, mit allen guten und üblen Eigenschaften.

Tollkühn und waghalsig trieb ich mich viel im Freien, im Wald und Feld herum, und lebte des Glaubens, dass mir nie etwas geschehen könne. Kein Baum war zu hoch, kein Abhang zu steil zum Erklettern, kein Mensch und kein Tier wurde gefürchtet. Im religiösen Leben aber war der ganze Junge ein Anderer.

Alle die Worte der Liturgie, alle Symbole des Ritus wurden von mir mit einer tiefen klaren Bedeutung erfüllt und es wurden mir in dieser Weise Dinge klar, über die ich gelegentlich von Erwachsenen als von „unerklärlichen Rätseln“ sprechen hörte.

Ich fürchtete mich, etwas von dem zu verraten, was ich „wusste“, denn es war so ganz anders als die Erklärungen der Predigt, oder die des Katechismus. Nicht im geringsten aber konnten mich diese anderen Meinungen irre machen an dem, was ich auf diese innere klare Weise schaute. So ging es lange Jahre, bis im halbwegs Erwachsenen die äußeren Zweifel an Kirche und kirchliche Lehre erwachten.

Da fielen wohl manche Formen, aber für jede „Form“ war schon ein tieferer ‘Inhalt‘ in mir lebendig. Der ‘alte Mann’. war fast vergessen, jedoch an seiner Stelle stand etwas, das immer, selbst in den tollsten Stunden, um mich war und das mich nur deshalb an ihn denken ließ, weil es mit demselben Gefühl der Zuversicht auf meine Seele wirkte, wie dieser seltsame Alte mit seinem wohltätigen Streichen der Hand, mit seinem so unendlich gütigen Ausdruck. —

Mir war oft ein innerlicher Zuspruch geworden, zu Zeiten, in denen ich gerade am wenigsten dessen würdig schien, und jedesmal hatte ich stärker als sonst das Gefühl des Zusammenhanges mit jenem alten Mann, und ich war in solchen Momenten fester überzeugt als je, dass ich ihn wiedersehen würde. —

Mittlerweile hatte ich mich einem Lebensberuf gewidmet. In dieser Zeit kam ich mit Spiritisten in Berührung, und deren Sache erschien mir mehr als nur interessant.

Ich hatte Gelegenheit, unter den denkbar sichersten Bedingungen, die unglaublichsten Phänomene zu sehen, aber meine geheime Hoffnung, gelegentlich auf diese Art jenes Alten wieder ansichtig zu werden, wurde nicht erfüllt. Ich fühlte im Gegenteil eine immer mehr sich ausbreitende Kälte und Leere in mir, je mehr ich mich an den ‘Sitzungen‘ beteiligt hatte. Der innere Zuspruch, an den ich fast gewohnt war, hatte nach und nach gänzlich aufgehört, und dennoch verließ mich nicht jenes unerklärliche Gefühl, in Sicherheit und guter Hut zu sein.

An einem Weihnachtsfest endlich vernahm ich wieder das Gewohnte, und diesmal war es eine so starke Warnung vor den Experimenten, denen ich als Zuschauer beigewohnt hatte, dass ich, zum Erstaunen der früheren Freunde, plötzlich die Beziehungen zu jenen Spiritisten abbrach.

Ich empfand ein Grauen vor dieser Sache, als ob ich verwesende Leichname liebkost hätte, und nichts in der Welt hätte mich je wieder zu den Sitzungen bewegen können.

Immerhin waren mir in dieser Zeit einige Begriffe klarer geworden, zu denen mir ‘Thomas a Kempis’, mein einziges mystisches Lehrbuch, noch nicht die nötige Aufklärung gab.

(Dass das römisch-katholische Messbuch das vollkommenste Einweihungs-Rituale der Welt darstellt, wusste ich damals noch nicht, trotzdem ich an seiner Hand in die tiefsten Mysterien nach und nach geistig eingeführt wurde. — Wie oft mußte ich später an jenes Wort Jesu denken: „Ihr habt die Schlüssel des Himmelreichs, aber Ihr geht nicht hinein, und denen, die hineinwollen, wehret ihr!“) —

So vergingen weitere Jahre, bis ich eines Tages unter Umständen, die auch einem mehr mysteriös veranlagten Gemüt, als mir, genügend „mystisch“ erschienen wären, aufs Neue mit jenem alten Manne meiner Kinderzeit Bekanntschaft machte. Diesmal auf eine wesentlich andere Art. — —

Briefe, die ich in jener Zeit an eine liebe Seele richtete, erfüllten die Leser mit unsagbarer Angst, und nur die nüchterne Erwägung, dass dieser „Wahnsinn“ denn doch zu viel „Methode“ habe, verscheuchten den aufkeimenden Glauben, es könne sich um eine geistige Erkrankung handeln.

Wenig später wurden meine Beziehungen zu dem „alten Mann“, oder meinem Guru, denn das war er, wie der etwas erfahrenere Leser leicht längst raten konnte, völlig regelmäßig.

Die letzte Spirale der Chelaschalt hatte begonnen. —

Im ägäischen Meer, auf einer weltabgeschiedenen Insel, sollte sie ihr Ziel erreichen.

Ich kann heute dafür einstehen, dass die Mysterien des Alten noch nicht erloschen sind. —

Ich kann bezeugen, dass es einen Akt der Einweihung gibt, von dem kein gedrucktes oder geschriebenes Buch mehr als dunkle Andeutungen geben kann. —

Ich weiß von einer Bruderschaft, der ich selber zum Bruder wurde, die der Ausgangspunkt ist für alle Gemeinschaften wirklicher Mystiker, die je auf dieser Erde bestanden. — Wir sind sehr Wenige.

— Wir sind durch ein kosmisches Gesetz zum ewigen Schweigen verpflichtet. — —

Wir sind aber in der Lage — auf rein geistigem Wege — der Menschheit, die nach den uns vertrauten Schätzen verlangt, mehr zu geben, als die kühnsten Träume der Dichter ihr je in Aussicht stellten. —

Vom Wege, der in unsere Einflusssphäre führt, habe ich in einem kleinen Buche geredet. (‘Das Licht vom Himavat’).

Es gibt heute große Bewegungen, die an ihren Ausgangs- punkten uns nahe standen.

Wir sehen diese Bewegungen auf lrrwegen. —

Wir müssen zusehen. — — —

Es ist nicht in unserer Macht, dem Karma ein neues Flussbett zu graben. Möchten die Führer dieser Bewegungen „einsehen!“. — — Mit diesen Dingen zu spielen ist ein gefährliches Spiel! — —

Was durch uns zu finden ist, darf nicht wie eine Sinnes-Wissen- schalt betrachtet und gesucht werden. —

Weder Askese, noch Pflanzennahrung, weder Abstinenz vom Alkohol, noch Sexual-Abstinenz ist dazu „nötig“, oder auch nur ‘nützlich’. — —

All das sind Auswüchse einer der unfruchtbarsten Weltanschauungen, die nichtsdestoweniger unter allen Völkern, in allen religiösen Gewändern einherstolziert. — —

Wer aber zu uns kommen will, damit wir ihm geben können, was er sucht, der sei ein nüchterner, gütiger, stiller, aber — erdfarbener Mensch. — — —

Anmerkung der Red. Als das.Buch ‘Das Licht vom Himavat’ vom Theosophischen Verlagshaus der Öffentlichkeit übergeben war, wünschten viele seiner Leser Näheres über den Autor zu wissen. Dr. Vollrath unternahm deshalb die Vermittlung. Darauf hin ging folgendes Schreiben ein mit obigem Artikel: Sie verlangten, verehrter Herr, vor einiger Zeit ‘Näheres. über den Autor des kleinen Buches zu hören. Zeitumstände nötigten mich, damals nur Grundsätzliches mitzuteilen. Heute erfahren Sie mehr. Sollte es Ihnen geeignet erscheinen, dann dürfen Sie diese Mitteilung "Ein Leben" in Ihrer Zeitschrift honorarfrei abdrucken. Einige Belegexemplare erbitte ich mir in diesem Falle an die Adresse der Dame, die Ihnen auch das kleine Buch überreichte. Ihrem Unternehmen allezeit zugetan B. Y. R.
 

 

 

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09.11.2012