Das Zeugnis eines Freimaurers
I.
Was müsste es für einen in Freiheit aufgewachsenen Menschen, der Licht
und Wahrheit mit aller Inbrunst der Seele sucht, ein einzigartiges
Erlebnis sein, wenn er von Voreindrücken unberührt auf einmal die Bibel
lesen könnte. Für mich war allein schon der Name Bô Yin Râ der Kontakt
zu einem wirklich geistigen Erlebnis einer Erleuchtung im klaren und
sicheren Erkennen. Da ist von der wahren Gotteskindschaft authentische
Kunde. Seit 32 Jahren einverleibe ich die Lehre, und immer in jeder
Lebenslage empfinde ich sie dankbar als unerschöpfliche Quelle lebendigen
Wassers, das allen Unrat wegschwemmt. Es ist eine Lust zu leben; doch nur
dann, wenn man dem Dasein, das meistens in Opposition mit dem ewigen Sein
steht, einen Sinn geben kann. Die Gnade wirkt überall, wo sie vorerst
aufgenommen wird. Das Aufnehmen-Können ist von jeder Einzelseele
abhängig, das heisst ob der für sie allein verantwortliche menschliche
Wille der Umkehr zum All-Willen fähig ist. Dieses Umkehren, verbunden mit
der Meisterung der tierischen Seelenkräfte, ist nur der Urkraft Liebe
möglich. Die grösste Liebestat, die Jesus in letzter Stunde am Kreuze
vollbrachte, die restlose Überwindung des Hasses, war nur möglich aus
der unendlichen Liebe in allem Lichtwillen in seiner unerfasslichen Potenz
in unermesslicher Mannigfaltigkeit.
"Fürchte nichts, als dich zu
fürchten", sagt Bô Yin Râ, denn das unverbrüchliche Erbe aus
Geistes- gleich Gotteskindschaft ist so reich, dass es kein irdisches Auge
sehen und kein irdisches Ohr hören kann. Die Lehre von Bô Yin Râ und
die Befolgung derselben im Alltag führt zu einem neuen Weg - gleich
Lichtsinn, zu seelischer Freiheit in immer wachsender Freude und Glück,
im besseren Plazieren-Können der zehntausend Dinge zwischen Geburt und
Grab. "Lasst (geistige Hierarchien des Lichtes) des Dankes Tempel
werden, all mein Dasein nun auf Erden! . .." In der Zeit des
Neonlichtes und der Ölheizung wird der helle Blitz, dem Paulus begegnete,
und der brennende Dornbusch, den Moses "sah", nur dem etwas
"sagen", der Licht und Wärme mit ganzer Seele in sich selber
sucht. Mein feuriger Helferwille könnte als "Besessenheit" im
Machen von Proselyten aufgefasst werden, was nicht zur Lehre gehört.
Heimlich wünsche ich aber die heiligende und aufheiternde
"Besessenheit" jeder Seele, damit die "frohe"
Botschaft im Christentum so viele dankbare Zeugen "richtiger
Religion" hat, als es liebende Seelen gibt, die Hunger und Durst nach
der Freiheit der Kinder Gottes haben, denen
"alles zum Guten gereicht".
Geistesgegenwart ist immer auch Gottesgegenwart,
die die Seele rein und den Geist kühn will, wie in der
"Zauberflöte" gesungen wird. Der Suchende muss das geistig
Wirkliche erfühlen, was die beschränkten Worte der irdischen Sprache nur
andeuten können. "Man muss das Land der Griechen mit der Seele
suchen", sagte Br. Goethe. - Der Schreiber dieser Zeilen ist über Bô
Yin Râ als Suchender zur Loge gekommen, was nicht heissen will, dass sein
Weg der einzig rechte Weg sei, aber jedes ernste Suchen erfüllt den
wahren Freimaurer mit Ehrfurcht.
II.
Bô Yin Râ war Künstler (Maler) und Schriftsteller
Bô Yin Râ, der bekanntlich mit seinem
bürgerlichen Namen Josef Anton Schneiderfranken hiess, ist 1876 in
Aschaffenburg geboren und vor 20 Jahren, 1943, nach langjährigem Leiden
in Massagno bei Lugano, dessen Bürgerrecht er erwarb, gestorben.
Die Vorfahren waren Forstleute, Zimmermeister und
Weinbauern. Er entstammte jener fränkischen Landschaft um den Main, der
wir viele bedeutende Künstlerpersönlichkeiten verdanken: einen Meister
Matthias Nithart (Grünewald), einen Dürer, Riemenschneider, Jean Paul,
Rückert, um nur einige zu nennen. Er war von Beruf Maler und hat unter
dem Autorennamen Bô Yin Râ etwa 40 Bücher veröffentlicht. 1880 zogen
die Eltern von Aschaffenburg nach Frankfurt am Main um, wo er die Schulen
besuchte, zuletzt die Merianschule. Nach weiterer Ausbildung in München,
Wien und Paris und Reisen nach Schweden und Griechenland hielt er sich
1922 in Capri auf, wohnte ab 1923 zwei Jahre in Horgen am Zürichssee und
schliesslich von 1925 bis 1943 in Massagno bei Lugano. 1954
veröffentlichte die Kobersche Verlagsbuchhandlung Zürich das Buch
"Bô Yin Râ, Leben und Werk" von Rudolf Schott. Als Maler wurde er vor allem
von Hans Thoma und Max Klinger in München und Paris gefördert.
Schneiderfranken ging es um die Darstellung eines
geistigen Kräftebereiches, der bemerkenswerterweise von Künstlern seit
der Jahrhundertwende besonders geahnt, wohl die Ursache sein mag, dass
viele Maler nach neuen Mitteln der Darstellung suchten. Er gehörte zu den
Malern, die nach 1933 in Deutschland nicht gezeigt werden durften. Der
Maler war zugleich Schriftsteller, der, ohne eine eigene Gemeinde bilden
zu wollen, sein Leben der Erneuerung des religiösen Bewusstseins widmete.
Warum er unter dem Namen Bô Yin Râ malte und schrieb, hat nichts mit dem
Inhalt seiner Bücher oder den religiösen Glaubenssystemen des Ostens zu
tun. Man kann seinen Namen am ehesten einem Initiationsnamen vergleichen,
das heisst einer Namens-bezeichnung, wie sie seit ältesten Zeiten in
menschlichen Verbänden, die hohe ethische oder künstlerische oder auch
nur gesellige Ziele anstrebt, einem Neophyten verliehen werden, um seine
individuelle Eigenart oder seine besondere Bedeutung innerhalb der
Vereinigung deutlich zu machen. Kein Geringerer als Felix Weingartner hat
als erster über Bô Yin Râ ein Buch herausgegeben. Es ist hier nicht
Raum, über Bô Yin Râ's Bücher- und Bilderfolgen ausführlich zu
berichten. Die Kobersche Verlagsbuchhandlung in Zürich wird gerne alle
Auskünfte erteilen.
Max NUSS schreibt über die Kunst von Bô Yin Râ:
"Ein Künstler, den eine Geisteswelt bewegt, hat es schwer, eine Form
für die Darstellung ihrer Realität zu finden. Es geht um einen Stoff,
der in der Transformation in den Bereich des Erfassbaren recht spröde
ist und sich dem Auge gern entzieht... Die Formeln ästhetischer
Massstäbe allein reichen für die Beurteilung solcher Kunst nicht aus.
Die Bewusstseinsschicht, die der Maler in uns ansprechen will, liegt
nicht peripher im Ästhetischen oder im Intellektuellen. Er verlangt, dass
wir ihm mit unserem Empfinden ein Stück entgegenkommen . . ." Er ist
nicht auf den Markt gegangen und hat nicht für die laute Welt gemalt,
sondern für die Stillen, die Geduld haben, die Wirkungen aus dem
Geistigen der Bilder auf sich abzuwarten. "Die Verschiedenartigkeit
der Beurteilung entspringt ganz natürlich der verschiedenartigen
Einstellung der Menschen und der Problematik unserer Zeit. Man spricht
heute viel davon, dass gegen den einseitigen Intellektualismus, gegen die
überhandnehmende Technisierung und Vermassung im Bewusstsein der Menschen
wieder Gegengewichte geschaffen werden müssen. Diese sind aus der
göttlichen Sphäre des Seins entnommen, immer wieder in den Werken
grosser Kunst zu finden. Selten jedoch tritt dieser oft mehr
hintergründige Aspekt im Kunstwerk so klar und offen in Erscheinung wie
in gewissen Darstellungen Bô Yin Râ's. Als Wegweiser zum transzendenten
Geistigen und divinen Seinsgrund des menschlichen Wesens ist das
Gesamtwerk dieses Meisters gerade für den Menschen unserer Zeit von ganz
besonderer Bedeutung.
Zum 20.Todestag von BÔ
YIN RÂ (Aus der Zeitschrift ALPINA, dem offiziellen Organ der
schweizerischen Grossloge Alpina, v. Juni 1963)