Rolf Schott
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EIN LEBENSMEISTER
von Rolf Schott

In den frühesten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts hatten die Länder deutscher Zunge - und nicht nur sie - eine Hochflut von Schriften zu bestehen, die als "Theosophie" herumgeboten wurden und in der Hauptsache bei mehr oder minder begriffenen indischen Überlieferungen - wohlbemerkt, auf dem Umweg über die Bücher der Schriftstellerinnen Blavatsky und Besant - anknüpften, etwa gar auch der Sache ein pseudowissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen versuchten.

Als dies alles ein wenig abzuebben begann, brachte der bekannte Verleger Kurt Wolff im Jahre 1919 eine eher kleine Broschüre von ungefähr 165 Seiten heraus, auf der zu lesen stand: "Das Buch vom lebendigen Gott" von Bô Yin Râ. Diese aus wenigen Kapiteln bestehende Abhandlung war durch ein rühmendes Vorwort des vielgelesenen Novellisten und Satirikers Gustav Meyrink eingeleitet.

Handelte es sich da abermals um einen theosophischen Traktat? Wenn man will - ja, vielmehr ganz entschieden ja; denn es handelte sich hier endlich nicht um blosse Pseudo?Theosophie. Dieser Traktat nämlich lebte von einer ungewöhnlichen Sprachgewalt und erwies sich ganz dicht von geistbewusstem Gehalt, ganz neu und zugleich anheimelnd uralt auf uns wirkend, wie man es vielleicht verspürt hatte, als man Meister Eckehart oder Jakob Böhme zur Lektüre aufschlug. Noch unmittelbarer jedoch wehte uns das an, wie echte, erquickende Lebensluft in jenen stickigen Jahren nach dem ersten grossen Krieg. Es entzündete ein Licht, dank dem unsere religiösen, unsere christlichen Vorstellungen uns nicht mehr wie "ein Spiegel in einem dunklen Wort" anmuteten, sondern wie recht eigentlich erlösende Lösungen der universalen Rätsel, von "Angesicht zu Angesicht" erblickt. So in der Tat konnte es einem beim Lesen jenes Buches ergehen, wofern man sich nicht von vornherein dagegen sperrte, irritiert durch Thema oder schockiert durch den ungewohnten Namen des Autors. Konnte man sich aber frei von Vorurteilen bewahren, dann griff man wohl von Fall zu Fall zu den anderen Büchern dieses Verfassers, die in weiteren fünf Lustren zum Vorschein kamen und immer neue Lichter am Baume des Lebens aufflammen liessen, bis jener sonderbare, schlichte und zugleich wundersam weltweit aufgeschlossene Europäer und Lebensmeister während des zweiten Weltkriegs auf die andere Seite ging.

Den zunächst befremdenden Namen, durch den er sich wie durch ein Wappen ausdrückte und mitteilte, erklärt er selbst an verschiedenen Stellen zur Genüge und erspart uns damit die Erörterung.

Was steht denn nun in diesen Büchern? Das lässt sich nicht in zwei Worten sagen, sondern, genau genommen, nicht eben kürzer, als es jener grossbewusste und erleuchtete Mensch selber in seinen, übrigens spannenden und so zu sagen kurzweilig zu lesenden Lehrstücken dargelegt hat. Wer im Begriffe ist, sich vom dumpfen Alpdruck des Erdendaseins ein wenig frei zu machen und wacher zu werden, den begleiten diese Bücher wie Schutzgeister. Ihr Inhalt und ihre Sprachmagie dringt zum Herzen; denn sie lichten unsere Probleme unmittelbarer auf als ganze ehrwürdige Bibliotheken, mühselig zusammengeschrieben von Gottesgelehrten und Weitweisen in ihrer geistigen Not.

Wie das? Darf man so etwas heraussagen, was man sich vielleicht nicht einmal von den altgeheiligten und inspirierten Büchern zu behaupten getraute? Warum denn nicht, wenn es sich - zugegeben: wunderbarerweise - doch so verhält. Aber es gibt offenbar doch zahllose Menschen, die den Namen dieses Mannes nie vernommen, nie eine Zeile von ihm gelesen haben. Das braucht einen nicht zu erstaunen, zumal in einer Zeit, die so grenzenlos vergesslich ist von einem Tag zum anderen und so gierig und verbissen nach aussen lebt, des inneren Sinns und Daimonions nicht achtend. Immerhin gibt es heute noch, etwa ein Vierteljahrhundert nach jenes Lebenslehrers und Künstlers Abscheiden, Menschen genug, die durch die Wegweisung seines Lehrwerks gelernt haben, ihre Seele zu ordnen und den Pfad ins eigene Innere und weiterhin zu dem darin lebenden, liebenden, beglückenden göttlichen Funken zu ahnen, zu finden und zu beschreiten; und dies ohne Gewaltsamkeit und Yoga, Askese und Okkultismus, Prinzipienreiterei und dialektische Künste. Er half und hilft uns, Lebensangst und Todesangst zu überwinden, das Geheimnis der Gotteskindschaft und des ewigen Lebens zu spüren und schliesslich zu erkennen im durchlichteten Bewusstsein.

Bô Yin Râ hat längst etwas bewerkstelligt, das man heute mit einem schon beinahe lästig gewordenen Begriff "Entmythologisierung" zu nennen beliebt. Er hat die in der Allwelt wesende Wirklichkeit in gelassenen Worten und unbeschwert von Allegorie, Symbolismus und apologetischen Kniffen dargestellt, vermittelst einer den inneren Zauber des VERBUM DIVINUM offenbarenden Sprache uns in die Seele geraunt.

In Erinnerung an Augustin möchte man angesichts dieses Lehrwerks sagen: "tolle, lege !" - nimm und lies - Und wenn du dich überwunden hast, das wirklich zu tun, dann wirst du es immer wieder tun und vielleicht nach fünf oder auch fünfzig Jahren verblüfft bemerken, dass du noch immer nicht den völligen Gehalt dieser Darlegungen auszuschöpfen vermochtest. Nimm und lies. Setze dich nicht auf die Bank der Spötter! Sei dankbar, dass es so etwas in dieser Welt gibt. Es kann dich befreien und zum Beispiel für die Nachwelt machen.

Rom, im Jahre 1969

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09.11.2012