Meine Stellung zu Bô Yin Râ
Diese Broschüre stellt einen unveränderten Nachdruck einer Flugschrift
dar, die in unserm Verlag erstmals 1930, also noch zu Lebzeiten von Bô
Yin Râ, erschienen ist. Unser Verlag betreut das Gesamtwerk von Bô Yin
Râ, dessen geistiges Lehrwerk nun wieder vollständig und in der von Bô
Yin Râ selbst bestimmten, nach Umfang und Gestalt endgültigen Form
vorliegt.
Es ist gewiss nicht üblich, dass der Buchverleger mit seinen
persönlichen Ansichten und Erfahrungen an die Öffentlichkeit geht.
Wenn schon dem Künstler gegenüber die Mahnung gilt, dass er schaffen,
aber von seinem Schaffen nicht reden soll, so hat der Verleger in
seiner viel bescheideneren Vermittlerstellung wahrhaftig allen Grund,
mit seiner privaten Person hinter der verantwortungsvollen Aufgabe
verborgen zu bleiben. Der Entschluss, diese mir sonst sehr zusagende
Zurückhaltung aufzugeben und über meine persönliche Stellung zu dem
Menschen Bô Yin Râ und seinen Werken in aller Offenheit zu berichten,
beruht denn auch auf praktischer Notwendigkeit: Die große Zahl
von Fragen, die mir mit zunehmender Verbreitung dieser merkwürdigen
Bücher von allen Seiten zugehen und ebensowohl Person und äußere
Lebensumstände des Autors, wie Einzelheiten des Inhalts betreffen,
lässt sich in dieser Form am besten beantworten. Dazu kommt, dass es
mir an der Zeit schien, der immer üppigeren Legendenbildung
entgegenzuwirken, mit der menschliche Phantastik das äußere Leben des
Mannes zu umspinnen begonnen hat, von der irrtümlichen Voraussetzung
befangen, dass das wesenhafte Geheimnis echter geistiger Berufenheit
sich mit unauffälliger bürgerlicher Lebensführung und Erwerbsarbeit
nicht vertrage, während doch alle Erfahrung lehrt, dass das zweifellos
Echte immer nur auf natürlichstem Boden wächst. Die letzte
Rechtfertigung meines vom Herkommen abweichenden verlegerischen
Hervortretens ist mir dabei die einmalige, jede Ausnahme begründende
Außergewöhnlichkeit des Mannes selbst und seines Werkes.
Bô Yin Râ, der bekanntlich mit seinem bürgerlichen Namen Joseph Anton
Schneiderfranken heißt, die Vorfahren waren Forstleute, Zimmermeister
und Weinbauern, ist 1876 in Aschaffenburg geboren, in jener
fränkischen Landschaft um den Main also, der wir schon so viele
bedeutende Künstlerpersönlichkeiten verdanken, einen Meister Matthias
Neithart (Grünewald), einen Dürer, Riemenschneider, Jean Paul,
Rückert, um nur wenige Namen zu nennen. Er ist von Beruf Maler,
gefördert besonders von Hans Thoma und Max Klinger, in München und
Paris ausgebildet, lebte längere Zeit in Griechenland und wohnt
gegenwärtig mit seiner Familie im Süden der Schweiz, nach wie vor als
Maler seinen Lebensunterhalt erwerbend. Er ist also weder ein Chinese,
noch ein entlassener Schullehrer, indischer Fakir, pensionierter
Pfarrer, buddhistischer Mönch, geflüchteter Sektenprediger,
freimaurerischer Großwürdenträger oder wie alle die abenteuerlichen
Gerüchte lauten mögen, die "als absolut sichere Wahrheit" von Mund zu
Mund scheinen herumgeboten zu werden, sei es mit schadenfrohem Grinsen
oder mit geheimnisfroh emporgezogenen Augenbrauen.
Die drei Silben des Namens Bô Yin Râ sind zwar alten Sprachen des
Orients entnommen, sollen aber weder eine orientalische Herkunft
vortäuschen, noch etwa den Inhalt der Bücher mit irgendwelchen
religiösen Gedankensystemen des Ostens verknüpfen. Man kann sie am
ehesten einem sogenannten Initiationsnamen vergleichen, das heißt
einer Namensbezeichnung, wie sie seit ältesten Zeiten in menschlichen
Verbänden, die hohe ethische oder künstlerische, oder auch nur
gesellige Ziele anstrebten, etwa Klosterorden, Künstlerverbänden,
Logen und dergleichen einem Neuaufgenommenen verliehen werden, um
seine individuelle Eigenart oder seine besondere Bedeutung innerhalb
der Vereinigung deutlich zu machen, nur dass es im vorliegenden Falle
nicht so sehr auf die gedankliche Sinnbedeutung ankommt, als auf die
gefühlsmäßige Klangbedeutung. Dass die Namensführung eine
gewisse Isolierung der Bücher innerhalb des Literaturganzen bedeutet
und deshalb manchen, der sich nur im Gleichschritt großer Horden wohl
fühlt, befremdlich berühren mag, ist freilich zuzugeben. Wer aber
allzusehr von dem einschläfernden Geräusch der Massendenkgewohnheiten
benommen ist, wird für den Klang der Sprache dieser Bücher ohnedies
nicht leicht erreichbar sein, weil er für die feine Stimme der eigenen
innersten Zustimmung taub ist, die durch jenen Klang geweckt wird. Ich
kann deshalb jedem, der sich durch die ungewohnte Namensbezeichnung
befremdet fühlt, nur raten, seine Bedenken ohne jede voreilige
Stellungnahme auf sich beruhen und zunächst den Inhalt der Bücher auf
sich wirken zu lassen. Wenn darin Werte, die ihn glücklich machen, und
auf seine Fragen aufschlussreiche Antworten enthalten sind, so darf er
unbedenklich annehmen, dass auch hinter dem fremdartigen Namen eine
sinnvolle Bedeutung und nicht eine lauernde Täuschungsgefahr verborgen
sei. Er würde wohl auch, wenn ihm eine Erbschaftsbehörde mitteilte,
dass ihm von einem ihm unbekannten Erblasser mit fremdartigem Namen
eine Geldsumme vermacht worden sei, zwar gewiss die ihm etwa
auferlegten Bedingungen genauestens prüfen, nicht aber das Vermächtnis
von vorneherein ausschlagen.
Ich habe selbst diese Bücher nicht anders wie jeder Käufer kennen
gelernt: in einem Buchladen, unter den aufliegenden Werken aus Neugier
blätternd. Es war dies lange Jahre, bevor es mir vergönnt war, sie in
ihrer Mehrzahl meinem Verlage einzufügen. Meiner Art nach skeptisch
und von begrenzter Begeisterungsfähigkeit, hegte ich bestimmt nicht
die Erwartung, in diesen anspruchslosen Bänden einer Wegleitung zu
wirklicher Wahrheitserkenntnis zu begegnen; ja wenn ich überhaupt eine
Überzeugung besaß, so war es die, dass Wahrheit über die geistigen
Tatsachen mindestens während dieses Erdenlebens dem Menschen nicht
erlangbar sei. Ich hatte es zwar immer als ein Gebot wahrhaft
kritischer Haltung angesehen, sich nicht grundsätzlich irgend einer
ungewohnten Bekundung gegenüber zu verschließen, sondern sie
unbefangen zu prüfen, weil Kritik schließlich nichts anderes als
Prüfung und Wertunterscheidung bedeutet. Aber von keiner mir bekannten
dogmatischen Überzeugung, freilich auch nicht vom Dogma des
Materialismus, befriedigt, von Natur vorsichtig, als Kaufmann und
Jurist an nüchterne Prüfung aller Tatbestände und Behauptungen
gewöhnt, war ich grundsätzlich abgeneigt, irgend einer Mitteilung
Glauben zu schenken, die sich auf den Besitz einer absoluten Wahrheit
oder Offenbarung zu berufen wagte, zumal mehrjährige praktische
Erfahrung als Richter mir schon die objektive Erfassbarkeit rein
erdensinnlicher Wahrheit zweifelhaft gemacht hatte. Unbefangen und
skeptisch habe ich damals die ersten Bücher von Bô Yin Râ, die mir in
die Hand kamen, zu lesen begonnen und zu meinem Erstaunen gesehen,
dass alles, was ich an kritischen Vorbehalten, an Einsicht in
Täuschungsmöglichkeiten, an Wissen um suggestive Beeinflussungsarten
und Abwehrwillen gegen solche zu besitzen glaubte, weit überboten und
vorweggenommen war von der kristallhellen Nüchternheit dieses Mannes,
dessen Geist schon längst alles durchmessen hatte, um was sich unsere
psychologische Forschung in Rede und Gegenrede müht. Und von jenseits
dieses ganzen Bereichs des Fragbaren und Bestreitbaren sprach aus den
Büchern eine Gewissheit von der ewigen Begründetheit des Menschen,
eine Gewissheit von so ungeheurer, schon in der Sprache erfühlbarer
Kraft, wie ich sie sonst nirgends gefunden hatte.
Die Gewissheit, die von diesen Büchern ausstrahlt, ist deutlich
erkennbar als eine Gewissheit praktischer Erfahrung und spricht
auch wieder zur persönlichen praktischen Erfahrung des Lesers, so
begrenzt und bewußtseinstrübe diese noch sein mag, so sehr sie
vorläufig auf Ahnung angewiesen bleibt im Gegensatz zur Schärfe und
Weite des Erlebens, von dem die Bekundungen Bô Yin Râ’s gespeist
werden. Es hat deshalb keinen Sinn, über sie wie über ein
philosophisches oder religiöses Gedankensystem Auskunft zu geben.
Selbst wenn eine solche Darstellung das Weltbild erschöpfend
wiedergeben könnte, dem diese Bücher, so weit als in Worten möglich,
Ausdruck geben, bliebe sie doch eben auf der Ebene des bloßen
theoretischen Vorstellens, eine Angelegenheit des Denkens, und damit
allen Missverständnissen des Denkens ausgesetzt, und ohne
Wirkung auf das Geschehen. Gerade so aber sind die Bücher Bô Yin Râ's
nicht gemeint. Sie wollen den Leser in das Geschehen selbst
hineinführen und ihn fähig machen, daran bewusst teilzunehmen. Man
kann deshalb nicht von einer philosophischen oder religiösen Lehre Bô
Yin Râ’s sprechen. Seine Bekundungen sind trotz der imponierenden
Geschlossenheit, in der sie aus seinem einheitlichen
Wirklichkeitserleben herauswachsen, keine Weltanschauungslehre,
sondern eine das Wohlbefinden des Lesers direkt angehende
Angelegenheit praktischen Handelns. Wenn ich über meine
persönliche Stellung dazu mich aussprechen will, so ist es deshalb
wohl auch richtig, statt den Versuch einer systematischen Darstellung
zu unternehmen, einfach die wichtigsten Kennzeichen zu nennen, an
denen mir selbst die praktische Bedeutung dieser Mitteilungen
aufgegangen ist.
Wenn man weiß, dass die Erregung von Furcht, von Angstgefühlen,
irgendwelcher Art das sicherste Mittel ist, Macht über menschliche
Gemüter zu gewinnen, so gewöhnt man sich, jede geistige Bewegung
zunächst daraufhin anzusehen, ob in ihr Elemente der Furchterregung zu
finden sind, was oft auch bei scheinbar lebensbejahenden Überzeugungen
zutrifft. Furcht lähmt alles wirkliche Leben, und wer das in sich
erfahren hat, wird sehr feinfühlig für alle Versuche des menschlichen
Machttriebs, oder Geltungsbedürfnisses, mit Hilfe religiöser
Vorstellungen bei andern Furcht zu erregen. «Alles Übel ist Furcht».
Dieses Wort Bô Yin Râ’s war für mich nicht nur die Bestätigung, dass
ich es mit ernsthaftester Wahrheitserkenntnis zu tun habe, sondern
auch stärkste Anregung zu einer vertieften Auffassung der
Lebenserscheinungen. Die Wahrheit dieses lapidaren Satzes hat sich mir
dabei auf Schritt und Tritt bestätigt.
Ich habe viele Menschen gekannt, die der ehrlichen Meinung waren, im
Besitze der Wahrheit zu sein, sei es nun irgend eine politische,
moralische, soziale Überzeugung, oder ein sie angeblich beseligender
religiöser Glaube, aber dabei dauernd sich gezwungen fühlten, andere
Meinungen, die ihrer angeblichen Wahrheit nicht entsprachen, aufs
heftigste aktiv zu bekämpfen und anzugreifen. Ich habe darin
immer eine Schwäche ihrer eigenen Überzeugung gesehen. Wer sicher ist,
kann abweichende Meinung ertragen, nur der Unsichere sieht in ihr eine
Gefahr, nämlich unbewußt für seinen eigenen Glauben. Für Bô Yin Râ
gibt es keinen aktiven Kampf, auch seine Kritik ist nie anderes als
bloße Warnung. «Die durch geistiges Gesetz geforderte Liebe ist die
höchste und stärkste Selbst- und Allbejahung, so dass der von ihr
durchdrungene Mensch sowohl in sich selbst wie in allem Mit-Dasein nur
das positive, das Geistgewollte, erfühlt, auch dann,
wenn er sich genötigt sieht, sich aufs schärfste der gleichzeitig
wirksamen negativen Kräfte der gleichen Erscheinung zu
erwehren.» Die unbedingte Wertbejahung Bô Yin Râ’s ist nicht
schwächliche Toleranz, sondern wirkliches Kraftbewußtsein,
das auch im Entgegengesetzten nur das Wertvolle auf sich wirken lässt.
Heitere Lebensfreude ist für mich immer das
untrüglichste Kennzeichen einer innerlich ausgeglichenen und sicheren
Lebenseinstellung gewesen. Sie ist allerdings recht selten
anzutreffen. Dass sie in einer hastigen Jagd nach Vergnügen nicht zu
finden ist, versteht sich ja von selbst, aber auch bei Menschen, die
sich einer tröstlichen religiösen Gewissheit rühmen, habe ich nur sehr
selten wahrhaft freie Heiterkeit, wirklich herzhaftes, befreites
Lachen gesehen. « Siehe, o Suchender, der du nach Harmonie in deiner
Seele strebst und dich dem Geiste in dir selbst vereinen
willst: — ich werde dich nicht „ernst nehmen“ können, bevor ich weiss,
dass du lachen kannst!» Ein solches Wort antwortet ebenso stark meiner
innersten praktischen Überzeugung wie die gewichtige Mahnung:
«Misstraue allem, was als «religiöses» Fühlen gelten möchte, ohne in
der Heiterkeit des Herzens sich bestätigt zu erweisen.»
Der Glaube, von dem Bô Yin Râ spricht, ist aber auch etwas
durchaus anderes als das, was ein lahmes Wahrheitssuchen darunter
versteht. Er ist vor allem praktische Kraft. Nicht bloße gedankliche
Überzeugung von Tatsachen oder Zusammenhängen. Ich habe nie mir einen
Glauben, der bloße Überzeugung wäre, ohne Zweifelsmöglichkeit
vorstellen können, weil es eben jederzeit möglich ist, dass ein bloßer
Gedanke von einem neuen Gedanken verdrängt und gewissermaßen
aufgezehrt wird. Wenn aber Bô Yin Râ sagt: «Was dir nicht gewiss
wird wie dein eigener Erdenleib, wird dir niemals Gewissheit heißen
dürfen»!, so musste eine ganz andere, viel stärkere Gewissheit
gemeint sein, ein Kraftgefühl, das sich mit dem Körpergefühl zu einer
Einheit verschmolzen hat. Ein solches zu gewinnen, schien mir, wäre
allerdings aller Anstrengung wert. Dass auf solchem, im Körper
verwurzeltem Kraftbewußtsein auch jene einzigartige Sicherheit Bô Yin
Râ's beruht, von der ich schon im Anfang betroffen worden war, wurde
mir nun verständlich. Man fühlt aus seinen Mitteilungen, dass es sich
bei dieser Gewissheit um ein wirkliches Wissen handelt, nicht um eine
der vielen uns bekannten sogenannten Glaubensgewißheiten, die doch
immer bloße Annahmen bleiben, mögen auch ihre Träger dafür zu sterben
bereit sein. Dass man auch für bloße Annahmen heldenhaft sterben kann,
hat schließlich die Erfahrung des Krieges auf beiden Seiten der
Schlachtfelder erwiesen. Den Wert und die Kraft eines Glaubens
hauptsächlich daran bemessen zu wollen, ob man dafür zu sterben
vermag, kommt mir als eine sonderbare Einseitigkeit vor. Viel
wichtiger scheint mir, ob man damit in wirklicher Freude und zu
wahrhaftem Nutzen für seine Mitmenschen leben kann. Zu Unrecht
wird der schmerzvolle Tod des Jesus von Nazareth als ein für alle
gültiges Vorbild dargestellt, um die einseitige Wertung des Leidens
und Sterbens als einer besonders hohen Glaubensbewährung zu
rechtfertigen. Man verkennt so die gewaltige unnachahmbare
Einmaligkeit dieses königlichen Sterbens.
Ich hatte die Gläubigen der katholischen Kirche immer ein wenig darum
beneidet, dass sie in ihrer Vorstellung der Mutter Gottes für ihre
religiösen Gefühle neben dem männlichen Element innerhalb der
Zielvorstellung höchster Verehrung auch ein weibliches besaßen.
Es schien mir, das Vertrauen das wirksamste Gefühl, das mit der
Gottesvorstellung verbunden ist, müsse ihnen leichter fallen als uns,
da sie auch weibliche Eigenschaften im Bereich der Gottheit als
gegeben annehmen durften. In der protestantischen, rein männlichen
Gottesvorstellung sind die strengen Züge vorherrschend und durch die
greisenhafte Auffassung der Bibelillustratoren nur wenig gemildert Bei
Bô Yin Râ fand ich die Erklärung meiner unklaren Empfindung, dort, wo
er von der mann-weiblichen Polarität im göttlichen Urgrund
allen Geschehens spricht, die sich in allen Erscheinungswelten
weiterzeugt, so dass auch in uns selbst das Göttliche nur in solcher
Polarität, als Mann und Weib, erfühlbar und erlebbar ist.
Damit ist im wesentlichen angedeutet, woran ich persönlich die
Berufenheit Bô Yin Râ’s und die praktische Bedeutung seiner
Lebenslehre, die den lebendigen Gott in unserem Inneren zu suchen uns
anweist, erkannt habe. Andere werden auf Grund ihrer andersartigen
praktischen Fragestellung aus anderen Kennzeichen Vertrauen gewinnen.
Immer aber wird es praktisches Vertrauen sein, nicht bloße
theoretische Zustimmung, was wirklich den Zugang zu den Büchern
öffnet. Vielleicht ist deshalb nicht unwichtig, auch etwas davon
anzudeuten, was bei der Befolgung der Ratschläge Bô Yin Râ’s sich
praktisch ergibt:
Mir war von vorneherein klar, dass als deutlichstes Merkmal für ihren
Wert oder Unwert ihre Brauchbarkeit im Alltagsleben zu betrachten sei.
Stellte sich eine Verkümmerung der Empfindungsfähigkeit ein für die
kleinen Erlebnisse des Alltags, eine Verminderung der Arbeitskraft,
der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, eine Abschließung
von der Teilnahme am Flusse des äußeren Lebens, so konnte es nicht der
richtige Weg sein. Ich hatte bei den verschiedensten geistigen und
moralischen Bewegungen, besonders auch an Reformbestrebungen aller
Art, ein solches Besessensein, ein Verarmen an künstlerischer
oder natürlicher Aufnahmefähigkeit beobachtet und erkannt, dass hier
eine Aushöhlung des geistigen Lebens bei den Betroffenen statt der
gesuchten Entfaltung vor sich ging. Der Gegensatz dazu scheint mir
Erfülltheit, die vielmehr eine Erweiterung und Verstärkung aller
natürlichen Interessen und Lebensbetätigungen bedeutet. Ich kann
bezeugen, dass eine solche Lebenssteigerung bis zu körperlicher
Bewusstheit das Ergebnis der richtigen Befolgung der Anweisungen ist,
die Bô Yin Râ in seinen Büchern gibt. Wohl ist eine Konzentration
der Interessen Voraussetzung wie Ergebnis jedes hohen Strebens. Aber
es ist ein Unterschied zwischen Besessenheit, durch die der Wille
beherrscht ist, und Besitz, durch den er erst seine wahre Auswirkung
findet. Der Kaufmann mit der Perle mag seinen Bekannten als besessen
erschienen sein, aber es war eine Perle, die er gewann, also
Freude, Glanz, Erlebnis der Schönheit.
Wie ich die Bücher selbst auf natürlichstem Wege kennen lernte, so ist
mir auch der Vorzug der persönlichen Bekanntschaft mit ihrem Verfasser
auf ungesuchte Weise zuteil geworden und ohne Bezugnahme auf die
Bücher. Es gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, Schriftstellern, deren
Werken ich mich verpflichtet fühle, persönlich zu danken und sie von
meiner Existenz in Kenntnis zu setzen. Ich verdanke der Bekanntschaft
mit Bô Yin Râ nicht eine Vertiefung des Verständnisses seiner Bücher,
denn in diesen gibt er sich in voller Totalität und rückhaltloser, als
es selbst im persönlichen Gedankenaustausch möglich wäre. Aber die
Güte und Teilnahme, die mir diese königliche Persönlichkeit hat zuteil
werden lassen, die humorvolle Heiterkeit, die Helle und Wärme, die von
ihm ausstrahlen, bedeuten für mich eine so unendliche menschliche
Bereicherung, dass ich die Stunden, die ich in seiner Gegenwart
zubringen durfte, zu meinen schönsten rechne. Dabei geht es in seinem
Hause keineswegs etwa im getragenen Ton hoher Rede oder gar
salbungsvoll, sondern sehr vergnügt und natürlich zu.
Bô Yin Râ ist eine große, stattliche Erscheinung. Man sieht ihm an,
dass er in jungen Jahren körperlichen Anstrengungen nicht aus dem Wege
gegangen ist; als leidenschaftlicher Bergsteiger hat er die
schwierigsten Gipfel bezwungen. Noch jetzt ist ihm die körperliche
Arbeit in seinem Garten, in dem er nicht nur jeden Baum kennt, sondern
selbst gepflanzt hat, eine wohltuende Erholung. Ein umfassendes Wissen
um die Lebensbedingungen und Bedürfnisse jeder Pflanze macht einen
Gartenspaziergang in seiner Gesellschaft geradezu zu einem spannenden
Lehrkurs.
Er fühlt sich durch innerlichste Verwandtschaft mit südlicher
Landschaft aufs tiefste verbunden. Und wenn er auch in unserem
schweizerischen Süden das südliche Meer, das er besonders liebt und in
seinen bekannten griechischen Landschaften so unvergleichlich
wiederzugeben gewusst hat, nicht in der Nähe besitzt, so leuchten doch
seine Augen, die dem mächtigen Haupt das Gepräge geben, ganz besonders
freundlich, wenn er von der lebendigen Einfachheit und Natürlichkeit
der ihm so lieben Menschen rund um die Seen jenseits der Alpen
erzählt.
Den Ereignissen der Welt, wie sie sich in der Zeitung spiegeln, bringt
er ein völlig unbefangenes Interesse entgegen und verfolgt auch jede
technische Erfindung mit lebhafter Teilnahme, die von seinem
eigenartigen Verständnis für physikalische Vorgänge besondere Farbe
erhält. Sein kluges Urteil über die Gesprächsgegenstände des Tages hat
nie den bitteren Nebenklang des Protestes gegen die Ungeistigkeit
unseres technischen Zeitalters, der heutzutage im Kreise sogenannter
kultureller Führerpersönlichkeiten für geistvoll gilt, auch wenn sie
mit dieser Ungeistigkeit sehr wohl zu paktieren wissen. Nur wer ihn
aus seinen Büchern kennt, kann erfühlen, wie weit er im Kern seines
Bewusstseins, das in ewigem Geschehen mitschwingt, von einer
Überschätzung der Fragen und Sorgen des Tages entfernt ist.
Form der Lebensführung und Ton des Hauses sind durchaus die eines
bürgerlich geordneten Künstlerdaseins, heiter, angeregt,
lebenszugewandt. Von dem humorvoll liebenswürdigen Verhältnis zwischen
Eltern und Kindern geht eine wohltuende Behaglichkeit aus. Die
Gastfreundschaft, die man als Freund erfährt, ist so naturhaft
dargeboten, dass sie nie bedrückend wirken kann. Das Wohlgefühl, das
die Atmosphäre des Hauses für den Gast in sich birgt, gleicht dem, das
man hat, wenn man an einem milden Wintertage von der Sonne beschienen
wird: Man fühlt sich beschenkt und erwärmt, aber nicht beschämt
darüber, dass man nicht auch selbst wärmend leuchten kann.
Dieser natürlichste und menschlichste Mensch, den ich je kennen lernen
durfte, hat also die Bücher geschrieben, von deren unvergleichlich
formender Bedeutung ich aus meiner persönlichen Erfahrung her versucht
habe, einen Eindruck zu geben. Ebenso einfach und natürlich ist im
Grunde auch ihr Inhalt, wenn man sich nicht durch die Neuheit dessen,
was unseren starren Denkgewohnheiten unerwartet ist, erschrecken
lässt. Ich habe schon etwa, und gerade von recht komplizierten
Charakteren, den Einwand gehört: «Das alles, was dieser Bô Yin Râ
sagt, mag für grübelnde Gottsucher gewiss beachtsam und förderlich
sein. Aber ich bin eben eine so einfache Natur, dass ich lieber
bei meinem einfachen Evangelium oder meiner einfachen
Naturverbundenheit oder meiner einfachen Religion der allgemeinen
Menschenliebe bleibe», oder was es sonst noch an solchen um ihrer
Einfachheit willen gepriesenen Weltdeutungen geben mag. Ich kann mir
nun sehr wohl vorstellen, dass einem wahrhaft einfachen Menschen in
jeder Glaubensform wirkliches Glück zu eigen werden kann. Er besäße
dann schon, was ihm Bô Yin Râ bringen will, und brauchte dessen
Schriften in der Tat nicht. Er würde sich dann aber allerdings auch
nicht auf seine Einfachheit berufen, wenn er die Bücher zu Gesicht
bekäme, sondern darin sofort erfreut die Bestätigung seines eigenen
Lebensgefühls entdecken. Wer sich auf seine Einfachheit beruft, tritt
damit schon aus der wahren Einfachheit heraus, die sich nie ihrer
selbst bewusst wird. Sein angeblich so einfacher Glaube ist im
Gegenteil meist ein sehr verwickeltes Vorstellungsgebilde, dessen
Kompliziertheit er nur nicht mehr durchschaut. Einfach kommt ihm sein
Glaube nur deshalb vor, weil er ihn an der Stelle in Ruhe lässt, an
der ihm Beunruhigung unerträglich ist. Die Bücher von Bô Yin Râ
verlangen gerade an diesen Stellen durch den unabweisbaren Ton
absoluter Gewissheit, der in ihrer Sprache schwingt und den
unentschiedenen Leser sogar reizen mag, Entscheidung. Nicht
Entscheidung zu irgend einer Überzeugung oder gar zu einer
Anhängerschaft persönlicher Art, sondern Entscheidung zu uns selbst.
Um uns selbst, unser Wohlbefinden, unsere praktische Entfaltung und
Lebenserfüllung geht es allein, um das Einfachste also und um das
Höchste zugleich: um unser Glück, dem unser noch ungeordneter
Willenshaushalt so oft im Wege steht. Und was uns darüber mitgeteilt
wird, sind form- und richtunggebende Anregungen für dieses, durchaus
praktisch gemeinte, Ja-Sagen zu uns selbst, nicht Bekenntnis
heischende Glaubenssätze oder starre Gebote für unser Verhalten, in
der Art wie sie etwa durch Vertröstungen und Drohungen den Gläubigen
religiöser Kultsysteme auferlegt werden.
Bô Yin Râ hat mir einmal gesagt, er habe in seinen Büchern nicht einen
einzigen Satz geschrieben in der Absicht, jemand von irgend etwas zu
überzeugen. Alles, was er schreibe, wolle nichts anderes, als immer
auf neue Weise den Leser an der Stelle berühren, an der er seinen
Willen umstellen müsste, um wahrhaft glücklich zu werden. Dieser
Punkt, an dem zur Erreichung innerer Harmonie eine Willensumstellung
erforderlich wäre, sei bei jedem Leser ein anderer. Das sei der Grund,
weshalb er in jedem Buche ein anderes Gebiet behandle, weil er nur so
die verschiedenartigen menschlichen Empfindungsweisen erreichen könne.
Wichtig sei nicht so sehr, dass man seinen Mitteilungen glaube,
sondern dass man praktisch darnach handle. Ich habe mich
bemüht, über diese Bücher so Auskunft zu geben, wie ich es als
Privatmann auf Befragen jedem Freunde gegenüber täte. Ich habe ja auch
in meiner Eigenschaft als Privatmann ihre Bedeutung erkannt. Dass ich
als Verleger über sie geringer denken sollte, wird niemand von mir
verlangen. Selbst misstrauische Leser meiner Mitteilungen werden, wie
ich zuversichtlich hoffe, zum mindesten den Eindruck gewonnen haben,
dass ich ihnen nicht etwas aufschwatzen will, wovon ich selbst nichts
halte, sondern ihnen nach meinen besten Kräften einen wirklichen
Dienst leisten möchte. Dass ich etwas Rechtes will, das also bitte ich
mir zu glauben. Ob ich damit recht habe, was ich über die
Bücher und ihren Verfasser sage, kann für jeden ohnedies nur
praktische Nachprüfung erweisen. Zu solcher Nachprüfung zu raten, weil
sie wahrhaftig die Mühe lohnt, ist der eigentliche Sinn meiner
Ausführungen.
Alfred Kober-Staehelin