BÔ YIN RÂ
Ein Lebensmeister und sein Werk
von Rolf Schott
Was ist ein Meister? Viel missbraucht wird das Wort und muss wieder zur
Würde gebracht werden. Uralt ist es und stammt unmittelbar aus dem
Lateinischen (magister), weiterhin aber auch aus dem Griechischen
(megistos) und sogar aus dem Etruskischen, von dem uns ein Heros namens
Mastarda überliefert ist, der später mit dem römischen König Servius
Tullius gleichgesetzt wird. Abgesehen davon, dass die alte deutsche
Sprache einen gelehrten Dichter damit bezeichnet, beweist die Herkunft
des Wortes, dass es auf einen Menschen gemünzt ist, der mehr und grösser
ist als Andere und Anderes. Solange das Wort nicht mit einem anderen
gekoppelt auftritt, hat es die schier zeremonielle Bedeutung nicht zwar
eines offiziellen Titels, sondern einer privaten ehrenden Anrede, sei es
an einen Handwerksmeister, sei es an einen hervorragenden Künstler,
stets aber an einen als schöpferisch empfundenen Menschen. Wenn nun ein
Mann alles Gesonderte und Fachliche hinter sich lässt, weil er das
Allgemeine im weitesten und höchsten Sinne, nämlich nicht nur seinen
materiellen und tiermenschlichen, sondern auch besonders seinen
seelischen Bereiche vom Geist her zu meistern versteht und also
ermächtigt ist, zu binden und zu lösen, dann böte sich keine
betreffendere Bezeichnung für ihn, als eben das Wort „Meister“. Bô Yin
Râ hat uns aber gezeigt, dass solche Meisterschaft noch etwas ganz
Wesentliches und Konkretes einschliesst:
Dank den Sagen vom Gral und
König Artus‘ Tafelrunde, romantischen Rosenkreuzergeschichten und dem
sonderbaren Fragment „Die Geheimnisse“ aus Goethes Mannesjahren, sind
wir Abendländer auf jenes Wesentliche und Konkrete nicht völlig
unvorbereitet. Gleichwohl musste es überraschen und skeptisch stimmen,
als vor einer Generation ein sich Bô Yin Râ nennender Mainfranke in
rasch aufeinander folgenden, wenig umfangreichen, dafür aber um so
inhaltsreicheren Büchern nicht müde wurde, die Kunde von jenen Helfern
und Mittlern und Brückenbauern des Ostens zu verbreiten. Nicht genug
damit, dass er zu diesem irgendwo im Himalaya-Gebiet gesammelten
Erlöserkreis aus Lebenden, aber auch aus Abgeschiedenen, in Geistgestalt
weiterwirkenden Männern sogar Laotse und Jesus rechnete, erklärte er,
selber ein Abgesandter und Zugehöriger dieser Weisen aus dem Osten zu
sein und als deren Mitbruder den geistigen Namen B6 Yin R zu tragen.
Eine starke Zumutung, nicht wahr? Aber es gab und gibt doch manchen
Menschen, in dessen Seele diese merkwürdige Kunde wie Erinnerung
aufklang, wie eine Mahnung im Herzen des verlorenen Sohnes, er solle
sich aufmachen vom Schweinekoben und den Rückweg zu seines Vaters Hause
suchen. Im Osten ist die Vorstellung von solchen Mittlern und Meistern,
solchen „Gurus“, geläufiger als bei uns. Man weiss dort von innerlich
Erwachten, völlig geistbewussten Gestalten, die der Buddhismus als
Bodhisattvas bezeichnet, die freiwillig auf die Buddhaschaft und das
Nirvana verzichten, um bei der zu erlösenden gefallenen Erdenmenschheit
bis ans Ende der Tage auszuharren. B6 Yin R erläutert uns sehr deutlich,
dass ohne jene Mittler die seelische Erlösung des Erdenmenschen wohl
unmöglich wäre. Die Legende von Christus in der Vorhölle deutet das
Geheimnis an.
Diese Zusammenhänge sind mit der Sprache und Denkungsform unserer Zeit
in fast allen Büchern des Meisters immer wieder geschildert. Gibt es
äussere Beweise dafür? Nein, die gibt es nicht. Schon Buddha hat sich
einst geweigert, seine Erkenntnisse durch Beweise und Theorien zu
stützen. Er hat einfach gesagt, was er erkannte, und verwies seine
Schüler auf die Meditation, da alles das nur innerlich erfahrbar ist. Bô
Yin Râ verweist ganz ebenso auf die Innenschau, zu der freilich nur
gelangt, wer eine harmonische Ordnung im Seelenhaushalt hergestellt hat
und die inwendige Führung eines Guru, eines Lehrers geniesst; die wird
man unweigerlich geniessen, wenn man die erste Bedingung erfüllt hat. Ob
nun Bô Yin Râ ein solcher Meister war und - auf der anderen Seite -
weiterhin ist, das kann einstweilen nur das Gefühl entscheiden, bevor es
sich entschlossen auf den Erfahrurigsweg der Meditation und der Einübung
in der Lebensweisheit begibt. Wir haben jedenfalls nach
fünfundzwanzigjähriger Prüfung nirgendwo finden können, dass seine
geistigen Ratschläge schädlich sind, vielmehr geeignet sind, zu Glück
und Frieden und inwendiger Gewissheit in geistigen Dingen zu führen. Es
könnte sich also lohnen, eine solche Lehre ernsthafter zu beachten,
selbst wenn darin ein paar Dinge zunächst etwas phantastisch anmuten.
Was den Namen Bô Yin Râ
angeht, warum sollte es gar so schwer sein, ihn als Siegel seines Wesens
hinzunehmen? Gewiss, mit Etymologie und Herumsuchen nach indischen oder
chinesischen, ägyptischen oder slavischen Wortstämrnen richtet man da
nichts aus. Namen können unerklärliche Wortsymbole für die geistige
Atmosphäre eines Wesens sein, können auch Gestaltungswunsch und
Zielsetzung ausdrücken, wie zumeist geschieht, wenn wir unseren
neugeborenen Kindern Namen geben. Genug, dass Menschen, die sich auf dem
von Bô Yin Râ gezeigten Wege befinden, sich an diesen Namen gewöhnt und
ihn liebgewonnen haben; sie spüren die ganze, von seinem Lebenswerk
ausgehende Segenskraft in den ausdrucksvollen und volltönenden sieben
Buchstaben gesammelt. Aber es sei hinzugefügt, dass der bürgerliche Name
Joseph Anton Schneiderfranken lautet. Im irdischen Kleid lebte der
Meister von 1876 bis 1945.
Man hat gegen Bô Yin Râ neben vielen anderen besonders zwei Einwände
erhoben:
Die Lehre ist synkretistisch, also aus anderen zusammengebraut; sie ist
auf medialem Wege gewonnen und zusammengesetzt. Der zweite Vorwurf ist
die Rache der Anhänger des Spiritismus, dessen furchtbare Irrtümer er
wie kein Anderer enthüllt hat. Der erste Vorwurf ist ernster zu nehmen,
weil diese Lehre an viele Weltbilder und Mysterien anklingt, die einen
tiefen religiösen Gehalt offenbaren. Sie nähert sich in bedeutsamen
Punkten dem altindischen Vedanta und seiner neuerlichen Renaissance in
Amerika, ferner dem Buddhismus, besonders in dessen Mahayanan-,
Vajrayana-, Zen- und sogar tantrischen Form, gewiss auch dem
hellenischen Mysterienwesen und dem Platonismus, zumal aber dem
Christentum, vielleicht mehr in seiner johanneischen und
altbyzantinischen, überdies arianischen Form und seinen mystischen
Aufwallungen im Mittelalter und Barockzeit, wobei aber auch der
chinesische Taoismus, überhaupt altchinesische Weisheit, die Gnosis, die
Alchemie und die jüdische Mystik in ihren kabbalistischen und
chassidischen Verzweigungen nicht vergessen werden dürfen. Bô Yin Râ
müsste gewaltig viel studiert und gelesen haben, um imstande gewesen zu
sein, überall in diesen Dingen die echten von den falschen Perlen zu
sondern. Dazu hatte er weder Zeit noch Möglichkeit, noch auch passte es
in seine Lebensgewohnheiten, die immer heftigst zum schöpferischen
Wirken drängten. Seine Natur, die unablässig Einheit und Harmonie
anstrebte, und ein ausdrucksvolles In-sich-Beruhen war wie ein grosser,
gesunder Baum, würde es gar nicht vermocht haben, tausend heterogene
Dinge aufzuklauben und zu einem scheinharmonischen Zufallsmosaik
zusammenzusetzen. Vielmehr können wir durchwegs die Beobachtung machen,
dass in seinen Lehrgefügen die den scheinbar mannigfachsten
Ueberlieferungen so ähnliche Substanz ein ganz neues und uns
Gegenwartsmenschen unmittelbar ansprechendes Gesicht bekommt, dass
ferner zwar an sich nicht neue, aber für uns heutige Menschen ganz neue
Dinge auf den Plan treten, wodurch die mehr oder minder
eingefrorenen und durch theologische Grübeleien vernebelten Inbegriffe
anderer Lehren und Religionen plötzlich neu belebt und integriert
erscheinen. Wir denken da insbesondere an das, was Bô Yin Râ über die
Seele, die Polarität, den Tempel und die Immanenz zu sagen hat, und
müssen uns hier leider mit der blossen Aufzählung begnügen. Seine
Mitteilungen rühren die Seele an wie uralte, einst von uns mitgesungene,
aber längst vergessene Lieder. Man fühlt unversehens: O mein Gott, das
habe ich ja längst gewusst, das weiss ich nun endlich wieder, das ist
die seelige Heimat, wie konnte ich das vergessen ?
Wenn einen ein Mensch das erleben macht, gleich zu Anfang und längst vor
den später dank seinen Weisungen zu erringenden Gewissheiten, längst vor
dem mit Gewalt zu nehmenden Himmelreich - ist das nicht Meisterschaft ?
Vor den sogenannten heiligen Schriften aller Völker und Zeiten, vor
aller Offenbarungsliteratur überhaupt eignet dem von B6 Yin R
hinterlassenen Lehrwerk allein der Vorzug, keinerlei historische
Redaktion durch fremde Hände haben erleiden zu müssen, die auf die
ursprüngliche Ausdrucksform, durch Umstellung und Weglassung,
Hinzufügung und Uebersetzung, Aenderung und Unterschiebung wie
zersetzende Säuren eingewirkt haben. Seine Lehrtexte stellen den heute
menschenmöglichen, erschöpfenden und zuverlässigen, im Grunde sogar
einzig möglichen Ausdruck dessen dar, was man Offenbarung genannt hat
und worüber eine Art stiller und vorurteilsvoller Uebereinkunft besteht,
dass sie nur in der Vergangenheit vorkommen und längst abgeschlossen
sei. Allerdings gibt es jetzt eine Legion prophetisch sein wollender
Bücher, die einen solchen Anspruch erheben, darunter sehr zahlreiche,
die den offenen oder verstohlenen Anschluss an die Wissenschaft suchen.
Ohne zu dieser Literatur hier Stellung nehmen zu wollen, ist doch zu
betonen, dass der beabsichtigte Anschluss an die Wissenschaft zeigt, in
welchen Bahnen sich solches Schrifttum bewegt. Damit soll vor allem
nichts gegen die Wissenschaft selber erinnert werden, die sich freilich
mit gutem Recht durch eine ihr nicht gemässe Nachbarschaft behindert
fühlt. Aber die notwendige Ausnahmestellung des echt
Offenbarungsmässigen besteht ja gerade darin, dass jedes Dokument
inspirierter Gottesweisheit sich bedingungslos ausserhalb von allen rein
verstandesmässigen Versuchen und deduktiven Unternehmen des sich
allenfalls Theologie oder Theosophie nennenden Erkennens und Forschens,
Spekulierens und Philosophierens verhält. Alle derartigen Dokumente
schöpfen - oder geben vor, es zu tun - aus einer Quelle, welche weder
die üblichen erkenntnistheoretischen Methoden speist, noch zu Zwecken
solcher Spekulationen willkürlich aufgesucht werden kann. Die Begründung
liegt darin, dass in der echten - und auch in vieler vorgetäuschten -
Offenbarungsliteratur auf die unbedingte Gewissheit, Wahrheit und
Wirklichkeit des Vorgetragenen verwiesen, also jene Sicherheit des
Wissens und Erkennens behauptet wird, die mit dem geheimnisvollen Wort
?tGlaubentt belegt ist. Dieses Wort meint ja nicht ttpürwahrhaltentt,
sondern erlebende Erkenntniszuversicht, also vielmehr ein Geloben, ein
Gelöbnis unwandelbarer Treue zu dem Pfad ins erkannte Ziel. Mit dem
wissenschaftlichen Suchen und vermeintlichen Finden hat das nichts zu
schaffen.
Nur in Verhüllungen konnte immer von jenem wirklichen Erkennen, welches
Bô Yin Râ ein Wissen durch Selbstverwandlung nennt und welches das
Mittelpunktserlebnis des Menschen schlichthin sein müsste, gesprochen
werden. Die scheinbare Verschiedenheit der Sprachsymbole fliesst in
einen einzigen Sinn zusammen, wenn man beginnt zu ahnen, was in aller
Offenbarung und Enthüllung doch ewig verhüllt bleibt und nicht
mitgeteilt werden kann. „Tao“, ‘Himmelreich‘, „Gotteskindschaft“,
„Selbsterkenntnis“, „Geheimnis der goldenen Blüte“und noch anders hat
man es zu Zeiten genannt.
Bô Yin Râ spricht mit nicht zu übertreffender Deutlichkeit von der
„Geburt des lebendigen Gottes im Ich“. Es ist das Grundthema seiner
Schriften. Moral wird darin nie gepredigt, da es um weit Tieferes geht,
sodass sich das Moralische, mit Kant und Vischer zu reden, von selbst
versteht.
Vielleicht darf noch erwähnt werden, dass sich diesem Mittelthema zwei
Seitenthemata anschliessen, nämlich das Thema, gebildet durch die
unvergängliche menschliche Seele und das schon zu Anfang dieser Lesung
angeschlagene Thema, welches die Heilande und Erlöser, die Brückenbauer
und Seelengeleiter des gefallenen und zu rettenden erdenmenschlichen
Geschlechtes umfasst. In seinem Buche „Das Mysterium von Golgatha“ gibt
Bô Yin Râ für das eine Nebenthema folgende Bestimmung: Die Seele ist ein
nur den höchsten inneren Sinnen erkennbarer Organismus, gebildet aus
unzähligen Einheiten, den „Seelenkräften“. Zweifellos wirkt diese
Erläuterung der Seele als eines Gestalthaften und sehr Komplexen
neuartig und konkreter als das, was man gemeinhin darüber vernommen hat.
Zum anderen Seitenthema begnügen wir uns mit der Anführung von
Bezeichnungen für jene Mittler oder „Leuchtenden des Urlichts“ wie sie
meistens von Bô Yin Râ genannt werden. In seinem nun wirklich gewaltigen
„Buch der königlichen Kunst“ nennt er sie auch „Meister der sieben
Tore“, „Wolken der Erkenntnis“, „Steine der grossen Mauer“, “Harfen des
geweihten Berges“, “Löwen der Stille“ und „Klaraugen“. Solche nicht
grundlos östlich anmutende Bildhaftigkeit der Ausdrücke mach tvielleicht
unmittelbarer, als es ausführlichere Erörterungen vermögen, vorwegahnen,
als was man Bô Yin Râ und seine geistigen Brüder erkennen darf.
Wer den Weg sucht und einen Lehrer und Wegweiser findet, wird nicht
weiterkommen, wenn er mit Zweifeln und Grübeln beginnen will. Er muss so
lange Vertrauen in die Weisung haben, bis die Erfahrungen auf dem von
dem Lehrer und seinesgleichen gebahnten Ewigkeitsweg den anfänglichen
Mut zum Vertrauen strahlend bestätigen.
Man könnte ja sagen, dass die von Bô Yin Râ dargebotenen Lehrtexte
nichts anderes seien als philosophische Versuche, religiös gefärbt
vielleicht, die sich artlich nicht so sehr von den Ideen eines Plato
unterscheiden. Dass mancher grosser Philosoph auf seine Weise in eine
entscheidende Erkenntnis erhoben worden ist, mag zutreffen. Aber auch
die erhabensten Philosopheme geben im Grunde alle noch etwas Aeusseres
und Erlernbares, eine Technik der Weltanschauung und Lebensführung mit
mehr oder weniger hohen Voraussetzungen, wobei manches an das religiöse
Grunderlebnis vielleicht herangetastet hat, weniger in der modernen als
in der antiken und mittelalterlichen Philosophie, von der indischen und
chinesischen nicht zu sprechen.
Die Lehre aber, die uns B6 Yin R, wie ehedem Laotse und Jesus, wiederum
gibt, ist nicht eine Philosophie oder eine Mythologie oder eine
Religion, sondern sie ist Religion an sich. Sie meint etwas artlich
anderes, etwas, das nicht erlernt werden kann, sondern erlebt und gelebt
wird, in jedem Individualfall volllständig verschieden und neu, also
etwas letztlich unsagbares. Wenn die menschliche Sprache hier, wie immer
von den Meistern in der Fülle der Zeiten gebraucht wird, so vermag sie
dennoch nur das Erlebnis zu umgrenzen, zu umringen, ahnen zu machen; wie
der Kraterrand das Wesen, das Abgründige, die Leere, die Gewalt des
Vulkans nur umschreibt und das einzig wesentliche dazwischen nur nach
aussen hin abgrenzt.
Vielleicht ist damit genug gesagt. Vielleicht wird man nun wissen, was
bei Bô Yin Râ zu finden ist, was nicht. Man wird finden, was sich einzig
zu finden lohnt. Man wird vermissen, was sich ewig zu missen lohnt.