Die Grundlagen wahrer Theosophie
(aus der Zeitschrift "Theosophie", Datum
unbekannt, Text von Bô Yin Râ)
Wenn ich hier von neuem wieder zu den Lesern dieser von mir stets hochgeschätzten, vornehmen theosophischen Zeitschrift spreche, so
geschieht dies auf den Wunsch sehr vieler dieser Leser hin.
Ich komme heute gerne diesem Wunsche nach.
Nach anderer Seite hin glaube ich aber auch jetzt deutlich genug
ausgesprochen zu haben, dass ich zwar keineswegs von der Theosophischen
Gesellschaft herkomme, dass ich gegen manche unter ihren Mitgliedern
‘verbreitete Lehre sehr begründete Einwände erheben muß, dass ich aber
gewiß nicht hier als feindlicher Eindringling zu betrachten bin, sondern
warmen Herzens das meinige dazu beitragen möchte, damit jedes einzelne
Mitglied dieser Gesellschaft das hohe Ziel erreiche, das es letzten
Endes doch durch den Anschluss an die „Theosophische Gesellschaft“ zu
erreichen hofft.
So möchte ich denn als freundschaftlicher Berater vor den Leserkreis
dieser weitverbreiteten Zeitschrift treten, nicht um
Meinungsverschiedenheiten und Dispute zu veranlassen, sondern um die
großgedachten Einigungsbestrebungen des Herausgebers auch meinerseits zu
stützen, um aus den Möglichkeiten meiner geistigen Einschau her, auf
jene Dinge hinzuweisen, die mir für ein gedeihliches und
fruchtbringendes Leben der ‘Theosophischen Gesellschaft‘ wichtig
erscheinen.
Ich habe hier lediglich die „Theosophische Gesellschaft“ im Auge, wie
sie heute besteht, als eine Tempelvereinigung großen Stiles, eine
Sammelstätte zum Geiste strebender Menschen unserer Tage, ganz so, wie
sie vom „Theosophischen Hauptquartier“ in Leipzig, dem Ausgangspunkt
dieser Zeitschrift, aufgefasst und vertreten wird.
Aller Personenkultus scheidet bei den Aufgaben dieser, wie ich
annehmen darf in bester Reorganisation begriffenen Gesellschaft ebenso
aus, wie jede enge Dogmenbindung, und ihr Streben ist einzig darauf
gerichtet, jedem ihrer Mitglieder alle Wege zu zeigen, die der Seele als
Wege zum Geiste erschienen und noch erscheinen, und wenn ich die Leitung
dieser Zeitschrift richtig verstehe, dann erwartet sie von ihren Lesern
ausreichende Fähigkeit zu eigener Urteilsbildung und schließt jede
Bevormundung ihrer Leser grundsätzlich aus.
Wer wollte bezweifeln; dass auf diese Weise unendlich viel Gutes
gewirkt werden kann?!
Nur auf solche Art ist es nach meinem Dafürhalten möglich, allmählich
die mir innerhalb der „Theosophischen Gesellschaft“ als bedenklich
erscheinenden Lehren prüfend in ihrer Unwesenhaftigkeit zu erkennen und
ohne Schaden abzustoßen.
Nur auf solche Art wird die verjüngte „Theosophische Gesellschaft“
die ewigen Grundlagen einer wahren Theo-Sophia in ihrem Tempelkreise
wieder finden, einer „Theosophie“ im tiefsten Sinne des Wortes, wie sie
seit den Tagen des Lao tse und des Apostels Paulus bestand bis hinauf zu
Eckehard, Tauler und Jakob Böhme, wie sie in der alten mystischen
Maurerei gepflegt wurde, und wie sie in Indien zu finden war von
Patânjali bis zu Râmakrishna. —
Tiefste, wenn auch geheimgehaltene Erkenntnis aller echten Theosophen
aller Zeiten war stets vertraut mit diesen Grundlagen, und deren
wesentlichste ist das hohe „Wissen“ um die einzige Art und Weise, in der
sich die Gottheit den aus ihr gezeugten Geisteswesenheiten offenbaren
kann. — — —
Zwecklos würde die Seele suchen, wollte sie je in unermesslichen
Räumen, wollte sie je in höchsten geistigen Sphären ihrem Gotte begegnen —
Sinnlos wären die erhabenen Lehren hoher Menschheitslehrer, würden
die Bilder Gottes, die sie gestalten, nur einem „Gotte“ gelten, der da
als „höchstes Wesen“ über anderen Geisteswesenheiten thront. — —
So wie man an keiner Stelle der Erde der reinen Elektrizität begegnen
kann, und doch alles auf dieser Erde durchströmt wird von dieser Kraft,
so auch ist es in allen Geistes-Sphären ewig unmöglich, Gott zu
begegnen, obwohl alles, was da lebt, nur im Dasein ist, als Ausdruck von
Gottes ewig zeugender Darstellungs-Gewalt. — Wie aber Elektrizität
gewisse Apparate braucht, um durch diese Apparate sichtbar und erkennbar
zu werden, so auch ist Gott in Zeit und Ewigkeit nur in jenen
Geisteswesenheiten sichtbar und erkennbar, die mit der Kraft Gottes
völlig vereint, zum lautersten Ausdruck von Gottes Wesen wurden. — Wer
zur Theo-Sophia, zum „Wissen“ um Gott gelangen will, der muß vor allem
diese Grundtatsache begriffen haben. — — Aus ihr aber ergibt sich
folgerichtig das Wissen um die Notwendigkeit solcher Menschengeister auf
dieser Erde, in denen die Gottheit sich selbst lebendigen Ausdruck
schuf, damit sie allen Menschengeistern erkennbar werde, auf dass alle
jene Vereinung erstreben, durch die der Menschengeist aus Gott
verherrlicht wird...
Nichts anderes als diese völlig der Gottheit geeinten Menschengeister
dieser Erde sind aber die eigentlichen „Meister der Weißen Loge“, von
denen leider ein Zerrbild existiert, das ihr wahres, kosmisch bedingtes
Wesen gröblich verfälscht. — — —
Wie jeder Menschengeist, der je auf der Erde erschien oder noch
erscheinen wird, so sind auch sie vor Äonen, als diese Erde noch nicht
einmal „Weltenstaub“ war, dem „Falle“ der Geister, gleich allen anderen
erlegen. Gleich allen andern erwarteten sie ihre Zeit, um sich mit dem
Menschentiere der Erde zu irdischem Leben zu verbinden, mit der Aufgabe,
dieses Menschentieres höhere Kräfte zu erlösen, und durch diese
Erlösertat selbst Erlösung zu finden…
Doch, höhere Geisteswesenheiten wussten aus geistigem, gottgeeinten
„Wissen“, dass keiner der diesem Erdentiere Verbundenen jemals zur
Erlösung kommen könne, ohne ihre Hilfe, und geistiges Wissen lässt keine
Wahl, wird Verpflichtung, verlangt gesetzliche Tat, sobald eine
Möglichkeit zur Hilfe gegeben ist. —
So suchten sich jene höheren Geisteswesenheiten aus der Fülle
harrender Geister, die sich auf Erden dem Menschentiere verbinden
mußten, jene aus, die sich aus freiem Willen bereit finden ließen, das
Hilfswerk dieser höheren Geisteswesenheiten zu fördern, da diese selbst,
ihrer Artung nach, mit dem im Tiere gebundenen Menschengeiste keine
direkte Berührung schaffen konnten. —
Die Bereitschaft, diesen höheren Geisteswesenheiten als
Vermittlungswerkzeug zu dienen, schloss die Bereitschaft in sich, eine
Jahrtausende dauernde geistige Vorbereitung durchzuleben und so erst
Jahrtausende später zur Inkarnation zu gelangen. — — —
Darum lässt sich mit Fug und Recht von den wirklichen „Meistern“ der
„Weißen Loge“ als von den älteren Brüdern der heute lebenden Menschheit
reden. — — —
Es ist aber ebenso irrig, sie für eine Art übermenschlicher Wesen zu
halten, wie es irrig ist, sie mit Fakiren und Dschungelheiligen zu
verwechseln. —
Sie betreiben auch keinerlei Mantik und entsagen allen okkulten
Künsten. —
Sie wissen auf weitaus bedeutendere Art in der Menschheit zum Guten
zu wirken, ohne jemals als Urheber dieses Wirkens offenbar zu werden. —
Ihr Wirken ist lediglich geistiger Art, und Irdisches wird von ihnen
nur bewegt, von jenen göttlich-geistigen Welten her, in denen ihr Wirken
aus Gott allein erfolgt. — — —
Eine Theo-Sophia außerhalb der Einflußwirkungen dieser gottgeeinten
Menschengeister, die hier im Erdenkörper die Last des Erdenlebens tragen
wie jeder andere Menschengeist, ist ein Unding! — Absurd und jeder Logik
bar ist jedes „theosophische“ Streben, das jene Wenigen auf dieser Erde
zu umgehen sucht, die allein ihm helfen können.
Kindlich ist aber hinwieder auch die Annahme, man könne jemals zu
einem „Meister“ der „Weissen Loge“ werden. —
Man kann wohl die gleiche, göttlich-geistige Einigung erlangen, aber
niemals wird man jene Kräfte zu eigen erhalten, die erst den „Meister“
der Weissen Loge zu dem machen, was er potentiell vor seiner Inkarnation
schon war. — —
Man darf, freilich auch nicht glauben, dass jene Gestalten, die um die
Wiege der „Theosophischen Gesellschaft“ herum gespensterten, etwa
wirkliche Meister der „Weißen Loge“ gewesen wären — — aber an dieser
Stelle meiner Rede fürchte ich doch noch, dass so mancher Leser dieser
Zeitschrift es nur schwer ertragen könnte, wollte ich so, wie es
berechtigt wäre; unsanft das Spinnennetz seines Glaubenswahns zerstören,
und darum möge hier nur auf gewisse Kapitel eines demnächst
erscheinenden Buches verwiesen werden, die im Vorabdruck bereits in den
„Magischen Blättern“, von denen ich oben sprach, zu lesen waren.. . Auf
dieser Erde kann jegliches Geschehen sich oft Jahrzehnte lang in
Verdunkelung verbergen, aber die Wahrheit kommt dennoch eines Tages
schrill und klirrend an unser Ohr, und was sich noch so lange im
Dämmerdunkel verbarg, muß eines Tages helles Sonnenlicht ertragen, mag
auch so manches Wundermärchen auf solche Weise seinen Untergang finden.
— — —
Es wäre mir Anlass zu tiefem, schmerzlichem Bedauern, sollte einst
solche Klärung der Geschehnisse, die sich in den Säuglingszeiten der
„Theosophischen Gesellschaft“ abspielten, dieser Gesellschaft, so wie
sie heute ist, und wie sie speziell vom „Hauptquartier“ in Leipzig
aufgefasst und vertreten wird; Schaden zufügen, und darum halte ich es
für meine Pflicht, darauf hinzuweisen, dass die Dinge damals nicht ganz
so lagen, wie sie die Gründerin der Gesellschaft zu sehen und
darzustellen beliebte. — — — Töricht und ungerecht wäre es aber, der
Theosophischen Gesellschaft« unserer Tage daraus irgendeinen Vorwurf
konstruieren zu wollen, oder die heutigen Mitglieder verantwortlich zu
machen für Irrtümer und Fehler der einstigen Gründerin.
Es unterliegt bei mir keinem Zweifel, dass eine wahrhaft theosophische
Gesellschaft heute tiefste Lebensberechtigung hat und es ist heute
völlig gleichgültig, welche Anlässe vor Jahrzehnten zur Gründung einer
solchen Gesellschaft führten, wenn nur das heutige Wirken der
Gesellschaft als einwandfrei und vorbildlich betrachtet werden darf. —
Die Grundlagen wahrer Theo-Sophia bleiben für alle Zeiten die
gleichen.
Auch die heutige „Theosophische Gesellschaft“ vermag es, auf ihnen
das innerste Sanktuarium ihres weiträumigen Tempels zu errichten.
Die Erkenntnis der Auswirkung Gottes, das „Wissen“, dass Gott nur in
den ihm völlig geeinten, geistesmenschlichen Wesenheiten offenbarend
wirkt, das „Wissen“, dass ein jeglicher Mensch dieser Erde imstande ist,
sich seinem ewigen Urbild, seinem „Vater im Himmel“, seinem lebendigen
Gotte anzugleichen und sich ihm mit seinem Bewußtsein zu vereinen, das
„Wissen“, dass ohne die stetige geistige Hilfe höherer geistiger
Wesenheiten, vermittelt durch die Meister der „Weißen Loge“, diese
Vereinigung des menschlichen mit dem göttlichen Bewußtsein unmöglich
wäre — dies sind die hauptsächlichsten Fundamentsteine, auf denen sich
das unantastbare Tempelkultbild erheben muß, um das sich die Mitglieder
der Theosophischen Gesellschaft erhobenen Herzens stets scharen können,
ohne jemals befürchten zu müssen, dass die Gottheit solchen Ort der Weihe
nicht als ihrer würdig betrachten möge! — — —
Theoretische Erörterungen über hellseherische „Forschungen“ auf
‘höheren‘ Ebenen sind völlig überflüssig, einmal, weil kein Hellseher
jemals zu „höheren“ Ebenen emporzudringen imstande ist, und dann: weil
alles Wissen über geistige Zustände nichts nützt, nur eitle Befriedigung
kindischer Neugier bleibt, solange man nicht, mit dem Bewußtsein des
lebendigen Gottes in sich selbst vereint, selbst fähig wurde, die Wunder
geistiger Welten geistig zu erleben.
Auf das geistige Erlebnis hin muß die »Theosophische Gesellschaft
ihre Mitglieder erziehen, damit ihr Tempel nicht zur Stätte wüstester
Spekulation entarte, damit er ein Heiligtum geistigen Lebens bilde,
inmitten der ausgetrockneten Wüste dürren Gedankenflugsandes, der auch
die erhabensten Tempelbauten früherer Zeiten allmählich zu verschütten
droht. — — —
Möchten meine Worte offene Herzen finden! — — —